Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
klopfte schließlich mit dem Fingerknöchel gegen das Holz. Als sich nichts rührte, hob er den rostigen Türklopfer an und ließ ihn gegen die Tür prallen. Ein dumpfes Wummern war zu hören, es verhallte im Inneren.
Niemand öffnete ihm.
Simon wartete eine Weile, dann versuchte er es noch einmal. Als sich nichts tat, drehte er sich enttäuscht um und ging die Treppe wieder hinab.
Eine Stimme hielt ihn zurück. »Was willst du denn hier?« Ira stand in der Tür und sah zu ihm herunter. Sie wirkte überrascht.
Simon zuckte mit den Schultern. »Ich wollte nach dir schauen.« Er kam sich plötzlich blöd vor.
Doch Ira lächelte und schlüpfte durch den Türspalt, sie freute sich anscheinend, ihn zu sehen. Sie war gar nicht so cool, wie er befürchtet hatte. Simon merkte, dass er froh darüber war.
Vorsichtig humpelte sie die Treppe hinab. Sie trug einen Rock, darunter waren ihre nackten Beine zu sehen, eines war dick verbunden.
Ira sah seinen Blick und winkte ab. »Ach, ist nicht so schlimm.« Ihre Oma habe die Wunden gesäubert, erzählte sie, und dann eine Heilsalbe aufgetragen. »Das Zeug ist der Hammer. Brennt total, aber heute sieht das Bein schon viel besser aus.« Während sie sprach, griff sie zu der Binde und nestelte daran herum. Für einen Augenblick fürchtete Simon, Ira würde den Verband abwickeln und ihm die Wunden zeigen, so wie es seine Großtante Margit einmal gemacht hatte. Ihm war dabei schlecht geworden. Doch Ira zupfte die Binden nur zurecht und strich eine Falte glatt, bevor sie sich setzte. Auch Simon hockte sich auf eine der Stufen.
Einen Moment war es still, keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte.
»Ich hab niemandem was verraten«, brach Simon schließlich das Schweigen, »also von dem, was gestern passiert ist.«
Ira nickte nur.
»Haben deine Eltern Stress gemacht? Oder deine Oma?«
»Nein. Papa ist egal, was ich mache. Und Oma schimpft nie.« Ira lächelte. »Sie ist zwar manchmal etwas seltsam, aber eigentlich ist sie ganz in Ordnung.«
Simon musste an das erschrockene Gesicht der Alten denken und an ihre rätselhaften Worte. Seltsam war ein viel zu harmloses Wort für den Auftritt.
»Weißt du, woher sie mich kennt?«
Ira hob die Schultern. »Keine Ahnung. Sie hat dich bestimmt verwechselt.«
Simon war enttäuscht. Er hatte gehofft, dass Ira ihm erklären würde, was mit ihrer Oma gestern los gewesen war und warum die Alte ihn Salvatore genannt hatte. »Vielleicht können wir sie mal fragen«, sagte er zögernd.
»Das geht nicht.«
»Und warum?«
»Sie redet nicht mit Fremden.« Ira stockte. »Sie ist nicht ganz … ganz klar im Kopf.«
Einen Moment lang war es wieder still, jeder hing seinen Gedanken nach.
Simon dachte daran, was seine Mutter ihm gesagt hatte: Die Alte sei verrückt und er solle sich keine Sorgen machen. Vielleicht war es wirklich das Beste, einfach alles zu vergessen.
Doch dann dachte er an die Augen der alten Frau, er dachte an die Verzweiflung in ihrem Gesicht und an den Schmerz,der in ihn geströmt war, als er ihre Hände gehalten hatte. Diesen Moment würde er niemals vergessen. Wie sollte er sich da keine Gedanken machen?
»Ich habe sie gespürt.« Simon sprach, ohne aufzusehen.
Erstaunt blickte Ira ihn an. »Was hast du?«
»Ihre Schmerzen. Sie waren in mir.« Simon sah Iras ratlosen Blick, und er erklärte ihr, was am Tag zuvor geschehen war. »Es ist passiert, als sie meine Hände festgehalten hat. Ich wusste, was sie fühlte. So als ob ich es selber fühlen würde.«
Ira runzelte ungläubig die Stirn. »Du verarscht mich doch, oder?«
Simon schüttelte den Kopf. Er zögerte einen Moment. Dann begann er zu erzählen: von seiner Familie, von ihrem überraschenden Umzug hierher, von seinem Großvater, der verschwunden war, von den leuchtenden Augen im Garten und von den Spuren in der verbotenen Scheune. Zuletzt berichtete er von dem Bild im Atelier des Großvaters, das die verlassene Stadt zeigte, mit den vielen Augen und dem unheimlich im nächtlichen Himmel glitzernden Tower.
»Meine Hände sind ganz heiß geworden, als ich es gehalten habe. So wie bei deiner Großmutter.«
»Du spinnst.« Ira sah ihn zweifelnd an.
»Ich sag die Wahrheit! Wirklich!«
Doch Ira glaubte ihm nicht. »Leuchtende Augen. Glühende Bilder. Du bist ja noch schräger drauf als meine Oma.« Sie wandte sich ab.
Einer Eingebung folgend, griff Simon nach ihren Händen.
»Hey, was soll das?« Überrascht wollte Ira ihm ihre Händeentziehen. Aber Simon
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