Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
das Bild stammte: Es war das fehlende Porträt aus dem Atelier des Großvaters – sein Opa hatte dieses Bild gemalt. Er war es, der es der Alten gegeben hatte. Sein Großvater, der verrückte Maler. Hatte nicht auch Filippo ihn so genannt?
Simon drehte sich zu Ira um. »Und du kanntest das Bild?«
Ira nickte betreten.
Simon wusste nicht, was er sagen sollte.
Die Alte hatte den Salbentopf zurück in den Medizinschrank gestellt, jetzt wandte sie sich ihm zu. »So, nun bist du dran. Zieh dich aus!«
»Muss das sein?« Simon war von ihrer Aufforderung überrumpelt.
»Durch deine Kleider kann ich nicht schauen.« Die Alte grinste und entblößte eine Reihe schiefer Zähne.
Simon merkte, wie er rot wurde. Sich vor Ira auszuziehen, war das Letzte, was er jetzt tun wollte.
Ira nutzte die Gelegenheit und erhob sich von ihrem Schemel. Noch immer verlegen, blickte sie zu Simon. »Wir treffen uns im Haus am Hafen. Dann können wir reden. Ich warte dort auf dich.«
Simon nickte nur.
Leise huschte sie aus dem Raum.
Die Alte wiederholte ihre Aufforderung. Eilig zog er sein Hemd über den Kopf und öffnete den Gürtel seiner Hose. Es war ihm unangenehm, doch er wollte, dass sie ihm half, also überwand er seine Scham. Der Bluterguss hatte inzwischen die Farbe gewechselt, er war dunkler geworden, einige blaue Schatten durchzogen die rote Fläche. Vor allem seine Hüfte sah schlimm aus. Iras Großmutter verzog keine Miene. Vorsichtig tastete sie Simons rechte Seite ab. Er zog die Luft durch die Zähne, es tat sehr weh, als sie den Erguss berührte. Sie nickte nur, ging ohne ein Wort zu ihrem Medizinschrank und ließ ihren Blick suchend über die aufgereihten Töpfe und Dosen wandern. Endlich hatte sie den richtigen Tiegel gefunden, öffnete ihn und schaufelte mit einem Spatel einen dicken Klecks Creme heraus. Vorsichtig verteilte sie die Paste auf Simons Haut. Ein stechender Geruch breitete sich im Raum aus. Der Schmerz ließ sofort nach.
»Was ist das?« Simon war beeindruckt.
Die Alte antwortete nicht. Sie rieb die Creme ein, bis nurnoch ein leichter Glanz auf Simons Haut zu sehen war. Der Bluterguss wurde heiß, jetzt schmerzte er mehr als vorher.
»Halte das aus. Es dauert nicht lange.« Sie klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und ging zur Waschschüssel, um ihre Hände zu reinigen.
Simon nickte und biss die Zähne zusammen. Vorsichtig zog er sich das Hemd wieder über den Oberkörper. Der Bluterguss pulsierte, mit jedem Herzschlag schoss der Schmerz in die Verletzung.
Eine Weile sagte Simon nichts. Wenn er die Augen schloss, war es leichter auszuhalten. Langsam ließen die Schmerzen wieder nach.
»Jetzt wird es besser, richtig?« Die Alte hatte ihn genau beobachtet.
Simon nickte.
Iras Großmutter trocknete ihre Hände ab und stellte den Tiegel zurück an seinen Platz. Simon sah schweigend zu und überlegte dabei, wie er am besten das Gespräch mit ihr beginnen sollte. Die Alte schloss den Medizinschrank und drehte sich grinsend zu ihm um. »Jetzt frag doch einfach. Du willst doch was wissen, oder?«
Simon nickte überrascht und stellte spontan die erste Frage, die ihm in den Sinn kam. »Warum sagen Sie, dass mein Opa verrückt ist?«
»Der Maler ist dein Opa?«
Simon nickte.
Sie zuckte mit den Schultern. »Alle im Dorf sagen, er ist verrückt.«
»Aber warum?«
»Findest du es normal, wenn jemand wochenlang durch die Straßen wandert und dabei ständig auf seine Hand starrt?«
Simon war überrascht. Er fragte nach, und sie erzählte ihm, dass sein Großvater Tag für Tag durch das Dorf gegangen sei, manchmal auch nachts, ohne auch nur einmal aufzuschauen. Er habe immer nur auf den Ring geblickt, den er an seinem kleinen Finger getragen hatte. Irgendwann habe er bei ihr geklopft und um Einlass gebeten.
»Und sie haben ihn reingelassen, obwohl alle sagen, dass er nicht ganz klar im Kopf ist?«
Sie grinste ihr schiefes Grinsen. »Glaubst du, die Leute finden mich normal, wenn sie mich das erste Mal sehen? Ich weiß, wie das ist, wenn dich alle für verrückt halten.«
Verlegen schlug Simon die Augen nieder.
»Aber warum«, fragte er weiter, »war mein Großvater hier?«
»Er hat etwas gesucht. Und hier bei mir im Zimmer hat er es gefunden.«
»Und was?«
»Wenn ich das wüsste … Ich hab nicht ganz verstanden, was er meinte. Irgendetwas mit einem Tor. Ein bisschen wirr war er ja doch.« Die Alte lachte keckernd. »Er sagte, du würdest es schon wissen, wenn du erst mal hier
Weitere Kostenlose Bücher