Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
das alles nicht verraten.«
Für einen Augenblick waren sie einander so nahe, wie sie es früher immer gewesen waren.
Simon wies auf den Motorroller. »Nimmst du mich mal mit?«
»Wohin? Nach Hause?« Tim war überrascht.
»Nee, hier ’ne Runde drehen. Der springt doch wieder an, oder?«
»Klar. Was denkst du denn?« Tim beugte sich über den Motorroller und trat den Anlasser herab, während er am Gashebel drehte. Blaue Qualmwolken ausspuckend, erwachte der Motor zum Leben.
»Geht’s auch jetzt?«
Tim runzelte die Stirn. »Die Zündung ist noch nicht eingestellt.«
»Aber er läuft doch. Bitte, ich muss runter ins Dorf.«
»Dann geh doch zu Fuß.«
»Ich kann nicht gehen. Nicht richtig.«
»Wieso das denn?«
Statt einer Antwort zog Simon sein T-Shirt hoch. Der riesige Bluterguss an seiner rechten Seite leuchtete rot.
Erschrocken pfiff Tim durch die Zähne. »Wie hast du das denn geschafft?«
Simon überlegte kurz, aber dann erzählte er ihm von der Sturzfahrt auf der U-Bahn-Rolltreppe. Alles andere ließ er weg. »Ich will zu Ira. Ich will sehen, wie es ihr geht.«
Tim grinste. Doch er stellte keine Fragen. Stattdessen ging er in die Werkstatt, kam mit einem Helm wieder heraus und warf ihn Simon zu.
»Komm.«
26
Tim brachte Simon bis zum Anfang der Straße, in der Ira wohnte. Weiter konnte er nicht fahren, es lag zu viel Sand auf dem Pflaster, der Wind hatte ihn am Anfang der Gasse zu einem Haufen zusammengeblasen.
Simon gab Tim den Helm zurück. »Danke.«
Tim nickte nur.
»Und was machst du jetzt?«
»Ich fahr zum Hafen. Ich glaub, ich hab Lust auf ein Stück Kuchen.« Tim lächelte traurig.
Simon verstand ihn. »Dann viel Glück!«
»Dir auch.«
Tim drehte am Gashebel des Rollers und knatterte davon. Das Motorengeräusch verhallte zwischen den Häusern. Simon schaute seinem Bruder kurz nach, dann stapfte er durch den Sandhaufen in die Gasse hinein. Seine Seite schmerzte, und er ging gebeugt, um die Schmerzen aushalten zu können. Es wurde stiller, bis nur noch das Geräusch seiner Schritte von den Häuserwänden zurückhallte. Kein Mensch war außer ihm unterwegs, die Gasse lag wie ausgestorben da. Auch auf dem kleinen Platz, an dem Iras Haus lag, sah er niemanden. Und doch hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden.
Langsam ging Simon die Stufen zur Eingangstür hinauf. Die Fensterläden waren vorgeklappt, das Haus sah abweisend aus. Er klopfte an der Tür. Nichts rührte sich im Inneren. Nach einer Weile klopfte er noch einmal und versuchte, durch einen der Fensterläden in das Innere des Gebäudes zu spähen.
Ein Quietschen ließ ihn aufmerken, die Eingangstür hatte sich einen Spalt weit geöffnet.
»Salvatore!« Es war nur ein Flüstern, doch Simon zuckte erschrocken zusammen. Im Türspalt sah er ein Augenpaar, das ihn fixierte, umrahmt von einem Kranz schneeweißer Haaren. Es war Iras Großmutter.
Simon schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht Salvatore. Mein Name ist Simon.«
Die Alte schien ihn nicht gehört zu haben. Sie stieß die Tür auf. »Komm.« Ihre dürre Hand ausgestreckt, winkte sie ihn zu sich. Fleckige Haut überspannte ihre Knochen. Simon musste an das Skelett denken, das er vor vielen Jahren als Kind im Schaufenster eines Trödelladens gesehen hatte, ein verstaubtes Knochengerüst, über dessen Hände der Besitzer des Ladens Gummihandschuhe gezogen hatte. Er hatte den Anblick nicht gemocht und einen Bogen um das Schaufenster gemacht. Auch jetzt hätte er sich am liebsten verdrückt. Doch die Gelegenheit, mit Iras Großmutter zu reden, wollte er sich nicht entgehen lassen. Er folgte ihrer Aufforderung.
So wie bei seinem ersten Besuch, war die Halle dunkel und kühl. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Simon wartete, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, dann schaute er sich um. Die getäfelten Wände, der Kronleuchter, die dunklen Türen und der große Kamin: alles war wie am Vortag. Doch diesmal stand eine der Türen offen, Iras Großmutter ging auf die Öffnung zu. Sie winkte ihm noch einmal, ihr zu folgen, und betrat den Raum. Die Tür ließ sie hinter sich offen stehen.
Simon durchquerte die Halle und folgte ihr in das Zimmer. Fasziniert von dem Anblick, der sich ihm bot, blieb er stehen.
Das Reich der Alten war eine bis in den letzten Winkel vollgestellte Wohnhöhle, mit Sesseln und Fellhockern, Tischen und Polsterstühlen, mit niedrigen Kommoden und hoch aufragenden Schränken. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge, und
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