Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
wälzte sich dunkler Qualm, den der Wind zu ihnen herübertrug.
Regungslos starrte Ashakida zum Tower. Sie fauchte leise, dann drehte sie sich zu Simon um. »Ich weiß jetzt, wo wir sind.«
»Und wo?«
»Wir nennen diese Welt Avaritia.« Sie verstummte.
Simon sah sie gespannt an. »Kennst du dich hier aus?«
Die Schneeleopardin schüttelte sich. »Ich war noch niemals hier. Kein Läufer würde freiwillig hierherkommen.«
»Aber warum?« Simon wies um sich. »Was ist hier los? Jetzt sag schon!«
Ashakida zögerte, bevor sie antwortete: »In dieser Welt hat Drhan die Macht.«
48
Sie verbrachten die Nacht in der alten Markthalle. Ein großer Teil des Daches war eingestürzt, doch weiter hinten entdeckten sie noch ein Stück, unter dem sie geschützt waren, wenn es regnen sollte. Obwohl es kalt war, zündeten sie kein Feuer an: Auch Ashakida hatte das Gefühl, dass sie nicht die Einzigen in den Ruinen waren. Außerdem wollten sie Drhans Soldaten nicht auf sich aufmerksam machen. Zum Glück entdeckte Simon in dem Rucksack seiner Eltern eine dünne Folie, mit der sie sich bedecken konnten und die sie erstaunlich gut wärmte.
Während Ashakida bald schlief, machte Simon kein Auge zu. Wieder und wieder musste er daran denken, was geschehen war. Die Vorstellung, nicht nach Hause zurückkehren zu können, trieb ihm Tränen in die Augen. Entschlossen wischte Simon sie weg. Er hatte es geschafft, Drhan zu entkommen, und er würde auch hier stark sein! Er würde sich nicht unterkriegen lassen!
Es fiel ihm nicht leicht, stark zu sein. Die Nacht war lang und dunkel und kalt.
Irgendwann musste er eingenickt sein, Simon hatte es nicht bemerkt. Als er aufschreckte, sah er ein Bild vor sich, das ihm einen fürchterlichen Schrecken einjagte: Die Nacht war vollerAugen. Simon hielt den Atem an. Es war wie auf dem Ölgemälde seines Großvaters, das er im Atelier gesehen hatte und dessen Entwurf sich in seinem Skizzenbuch befand. Doch dies hier war kein Bild, dies hier war die Wirklichkeit. Und er war ein Teil der Szene, gemeinsam mit Ashakida, so wie es sein Großvater skizziert hatte.
Ohne sich zu regen, sah er sich um. Die Augen beobachteten sie. Sie spähten aus Mauerritzen und durch Fensteröffnungen, sie verbargen sich hinter Vorsprüngen und lauerten hinter herabgestürzten Balken. Nichts rührte sich, niemand kam näher. Als Simon die Folie zurückschlug und aufstand, verschwanden die Augen, und die Nacht war schwarz und still wie zuvor.
Stunden später dämmerte es. Erschöpft erwachte Simon aus einem unruhigen Halbschlaf. Er hatte sich dicht an Ashakida gekuschelt. Trotz ihrer Wärme und dem Schutz der Folie waren seine Muskeln steif vor Kälte. Jeder Knochen seines Körpers tat ihm weh. Auch Ashakida erwachte, sie streckte sich und sprang auf. Sie wirkte ausgeruht, ihr schien die Nacht nicht viel ausgemacht zu haben.
Sie nahmen ein paar trockene Kekse aus dem Rucksack, auch etwas Wasser war unter den Vorräten. Während sie aßen, erklärte Simon, was er vorhatte. Die Schneeleopardin nickte nur, sie hatte es erwartet und konnte ihn verstehen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg hinauf zum Hügel. Simon wollte sich das Haus anschauen, das in seiner Welt das Haus des Großvaters gewesen war. Vielleicht fanden sie dort einen Hinweis auf ihn, vielleicht gab es dort ein Weltentor.
Der Weg hinauf schien fast vertraut, die Straßen waren ähnlich angeordnet wie in dem Dorf, das Simon kannte. Doch der Hügel dahinter war dicht bebaut mit Häusern – in dieser Welt hatte die nahe Stadt die gesamte Küste überwuchert. Dicht an dicht standen die Wohnblocks, es musste hier laut gewesen sein und voller Menschen, bis das Feuer alles zerstört hatte. Fast hätte Simon die Auffahrt zum Haus verpasst, sie versteckte sich hinter einer Reihe von Wohnblocks, die rußgeschwärzt und leer die Straße säumten.
Schweigend gingen sie die Auffahrt hinauf. Nichts bis auf die Form der Zufahrt erinnerte Simon an seine einstige Heimat. Das Wohnhaus war verbrannt und in sich zusammengefallen und auch die Scheune war nicht mehr als ein Haufen verkohlter Balken. Wenn es hier je ein Weltentor gegeben hatte, war es längst zerstört.
»Und jetzt?« Ashakida sah Simon fragend an.
Simon wusste keine Antwort. Bedrückt gingen sie wieder zur Straße.
Es traf ihn wie ein Faustschlag, als er sich noch einmal umsah und zurückschaute – es war, als hätte er den Anblick des verbrannten Hauses und der verkohlten Scheune gebraucht, um zu
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