Der Torwächter Bd. 2 - Die verlorene Stadt
Ende ihrer Kräfte.
Die Leopardin schüttelte sich, Wassertropfen stoben aus ihrem Fell. Auch sie hatte der Kampf gegen die Flut viel Kraft gekostet. »Eines ist sicher: Das Wasser kommt wieder.« Sie knurrte leise und wies auf die Pflanzen, die den Bahnsteig und die Halle des U-Bahnhofes überzogen hatten und die nun tropfend das hereingespülte Wasser wieder abgaben. »So was wächst nur, wenn es regelmäßig gegossen wird.«
Sie beschlossen, doch erst einmal hierzubleiben, und bahnten sich einen Weg durch den nun taghellen Dschungel. Das Wasser hatte die Anemonen mit Energie versorgt, ihre Tentakel hatten sich aufgerichtet und strahlten hell. Simon war das nur recht. Er wollte eine Stelle finden, die möglichst trocken war, um gewappnet zu sein, falls erneut der U-Bahnhof überflutet werden sollte. Und das war bei dem hellen Licht der Anemonen viel leichter als im Strahl ihrer Taschenlampe.
In einer Ecke fanden sie schließlich ein Stück Wand, an der kaum Pflanzen wuchsen. Davor stand ein Müllcontainer, dessen Oberseite nur von einer dünnen Algenschicht überzogen war. Erschöpft krochen sie auf den Container. Die Fläche war zu klein, als dass sie sich alle ausstrecken konnten, und so ruhten sich immer zwei von ihnen aus, während der Dritte neben dem Müllcontainer stand und aufpasste.
Die nächste Flutwelle kam nach genau einer Stunde, Simon hatte die Zeit mit seiner Uhr gestoppt. Jetzt war er froh, einen wasserdichten Chronometer zu tragen – als ihm sein Großvater die Uhr im letzten Sommer in den Ferien geschenkt hatte, war sie ihm überflüssig vorgekommen.
Es war wie beim ersten Mal. Erst ertönte ein Rauschen, das langsam lauter wurde, dann begann der Boden zu zittern. Das Rauschen steigerte sich zu einem Dröhnen, bis mit einem Schlag die Flut aus dem Tunnel schoss und auf den Bahnsteig drängte. Innerhalb von Sekunden stieg das Wasser in der Halle an. Ashakida hatte Wache gehalten und die anderen sofort geweckt, dann war sie selber auf den Müllbehälter gesprungen. Das Wasser näherte sich dem Container, es umspülte die Metallbox und leckte an ihren Füßen. Doch so, wie sie es gehofft hatten, blieben sie hier oben weitgehend trocken.
Nach knapp zehn Minuten war alles vorbei und der Wasserspiegel sank wieder. Ein vielstimmiges Tropfen füllte die unterirdische Halle und die Anemonen strahlten hell.
»Und jetzt?« Ashakida sah Simon auffordernd an. »Wir können nicht ewig hier hocken. Wir müssen hier weg.« Und sie blickte in den Gang, der hinauf in die Vorstadt führte.
Simon verstand, was sie sagen wollte. Er schüttelte den Kopf. »Ich geh nicht zurück. Ich muss ins Stadtzentrum.«
»Und wie willst du das schaffen?« Die Stimme der Leopardin klang zornig. »Willst du schwimmen? Oder wellenreiten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Simon, »lass mich darüber nachdenken.« Sie sei dran, sich auszuruhen, danach würden sie weitersehen. Simon blieb beharrlich, bis Ashakida nachgab und sich zu Ira auf den Container legte.
So wie Ira schlief auch die Leopardin sofort ein. Simon beneidete die beiden ein wenig, er hätte gerne noch länger geschlafen.
Nachdenklich betrachtete er seine Freunde. Er hatte ihnen nicht erzählt, was passiert war, kurz bevor er die Leiter gegriffen hatte. Und sie schienen nichts gemerkt zu haben.
Simon holte den Handschuh hervor, den er wieder im Rucksack verstaut hatte. Er drehte ihn in seinen Händen und betrachtete ihn aufmerksam im schwächer werdenden Licht der Anemonen. Behutsam schob er seine Hand in die Öffnung. Die Schuppenglieder klickerten leise. Schlaff hing der Handschuh von seinem Arm herab.
Simon war sich sicher: Irgendetwas war mit dem Handschuh passiert, in dem kurzen Augenblick, bevor er die Leiter gegriffen hatte. Vorsichtig strich er über die blaue Fläche, die den Handrücken bedeckte. Irrte er sich, oder hatte die Fläche geleuchtet? Jetzt sah das Blau stumpf und unscheinbar aus.
Er streckte seine Hand aus, so wie er es getan hatte, als sie in der reißenden Strömung getrieben waren. Er kam sich albern vor, doch dann versuchte er, sich noch einmal in seine Gefühle während jener Situation hineinzuversetzen. Er hatte Angst gehabt. Und zugleich war er fest entschlossen gewesen, die Leiter zu packen. Simon schloss die Augen. Noch einmal durchlebte er, wie sie im Wasser schwammen, und er reckte sich und ließ die Verzweiflung des Moments in die Spitzen seiner Finger fließen.
Plötzlich zog sich klickernd die Schuppenhaut des
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