Der Tote am Lido
Lichtschalter, betätigte ihn und fand sich in einem grellbunten Chaos wieder. An den Wänden waren, bis unter das Wellblechdach, Waren aufgeschichtet. In Pastell- und Neonfarben leuchteten ihmTextilien und Ethnoschmuck, Strohhüte, Plüschtiere und Holzskulpturen entgegen. Die typischen Objekte, die von Vu cumpra ’ am Strand verkauft wurden. Nur hatte Meseret die seinen nicht verkauft, er hatte sie in dieser Garage gehortet. Aber das erklärte noch weniger, wie er zu seinem Geld gekommen war. Wenn er Waren kaufte, aber nicht weiterverkaufte, wie hatte er dann Geld verdient? War dieses Warenlager hier die Erklärung für seinen Tod? Hatte er Schulden gemacht und war dafür bestraft worden?
Hatte Meseret statt der üblichen Waren Drogen verkauft? Hatte er Michael und dessen Großhändlern Konkurrenz gemacht? Die Fragen wurden immer spekulativer und unbefriedigender. Lunau fing an, die Stapel abzutragen. Er suchte in den Handtaschen und in der Füllung der Plüschtiere, in den Holzkugeln und in Taschentuchpackungen. Aber er fand nichts. Falls es etwas Wertvolles gegeben hatte, war es bereits verschwunden. War jemand Lunau zuvorgekommen?
Er räumte die Garage wieder auf und schloss ab. Als er durch das Treppenhaus kam, machte eine Frau sich an ihrem Briefkasten zu schaffen. Offensichtlich kam sie gerade aus dem Urlaub zurück, denn neben ihr standen zwei Koffer, während sie einen Stapel an Prospekten und Gratiszeitungen in einen Abfallkorb warf. Lunau suchte die Reihe nach Meserets Briefkasten ab. Die Klappe war geschlossen, nichts ragte aus dem Schlitz. Ungewöhnlich bei einem Briefkasten, der seit zwei Wochen nicht geleert wurde. Oder war er geleert worden? Lunau wurde klar, dass er auch in der Wohnungkeine Post gesehen hatte. Weder in der Küche noch in den Zimmern waren Briefe gewesen. Nicht einmal die üblichen Wurfsendungen von Pizzabringdiensten, Kredithaien oder Versicherungen. Lunau wartete, bis die Frau verschwunden war, dann betrat er wieder das Foyer. Meserets Briefkasten war leer, bis auf einen Umschlag. Ein behördlicher Bescheid, von der Provinzverwaltung in Bologna: »Hiermit bestätigen wir, dass Ihrem Antrag (Ihr Schreiben … Aktenzeichen IL …) stattgegeben wurde. Ihre Konzession der Zucht von Tapes philippinarum auf der staatlichen Liegenschaft X 23/233 b ist damit aufgehoben.«
Hatte Meseret sich auch als Pflanzenzüchter versucht?
Hatte er Land gepachtet, um darauf Drogen anzubauen?
Hatte man ihn unter Druck gesetzt, und er hatte einen Rückzieher gemacht?
Aber warum hätte man ihn dann noch töten sollen?
Lunau war nass geschwitzt und hungrig, als er sich in seinen Wagen setzte. Er fuhr zur Bar im Zentrum des Dorfes, kaufte ein belegtes Brötchen und Wasser. Er schlang sein Essen am Tresen hinunter und trank die Flasche Wasser. Erst beim Bezahlen nahm er wahr, dass das Lokal gefüllt war mit alten Männern, die ihn schweigend anstarrten. Lunau blickte in die wettergegerbten Gesichter, in die hellen Augen, die zwischen den Runzeln blinkten. »Können Sie mir sagen, warum in Bosco Mesola die Baubranche boomt?«, fragte er. »Wovon leben die Leute hier?«
»Was meinen Sie mit Boom?«, erwiderte ein Greis, der im Zentrum einer Männergruppe stand, die sofort zu lachen begann. Sie schienen seit Tagen auf nichts anderes gewartet zu haben.
»Das Neubaugebiet, die Reihenhäuser.«
»Ach so. Wer sich in Goro kein Haus leisten kann, zieht eben nach Bosco Mesola.« Wieder Gelächter. Ein brillanter Witz. Bosco Mesola lag schon am Arsch der Welt, aber für Goro gab es nicht mal mehr vulgäre Metaphern. Lunau war zu müde, um den Humor zu teilen.
Er trat hinaus auf die Hauptstraße, die eine Neunzig-Grad-Kurve vor der Bar beschrieb, wurde, trotz der späten Stunde, von einem Schwall schwüler Luft eingehüllt und nahm sein Handy aus der Tasche. Er wollte das Telefon wegstecken, als er das Foto von Silvia auf dem Display sah.
Er schaute sich um, sah die lange Gerade, die aus dem Ort führte, sah die Männer, die durch die blinde Scheibe zu ihm herübersahen. Er wartete, bis das Ziehen im Magen nachgelassen hatte, und beschloss, das Foto durch eine neutralere Aufnahme zu ersetzen. Aber wo waren die neutralen Aufnahmen in seinem Speicher? Da waren Bilder von Jette und seinen Kindern an der Ostsee, in der gemeinsamen Wohnung in Berlin, Bilder von Silvia, Sara und Mirko am Lido.
Er scrollte immer schneller durch den Speicher, bis ihm eine Idee kam. Er ging zurück in die Bar, hielt eine kurze
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