Der Tote am Lido
Adelchi Schiavon, Amandas Vater, lächelte zuversichtlich und altväterlich. Für sein neues, sauberes Italien.
Silvias Haus lag still in der Nachmittagssonne. Der Panda parkte vor der Tür. Der Vorgarten war leer, die Spielsachen waren weggeräumt. Eine merkwürdige Stimmung ging von diesem Haus aus. Es war nicht still, sondern leblos. Oder bildete Lunau sich das ein? Kam das unbestimmte Ziehen in Lunaus Magen woanders her?
Lunau dachte an Michael zurück und stellte sich immer wieder dieselben Fragen. Wieso hatte er Sara entführt? Wirklich nur, um an Joy heranzukommen? Und wen hatte er mit »deine kleine Schlampe« gemeint? Silvia? Amanda? War er verrückt genug, um noch einmal gegen Silvias Familie vorzugehen? Wer hatte Michael eingeredet, dass Lunau Joy versteckte?
Als es dämmerte, hatte Lunau noch immer keinen der Bewohner des Hauses gesehen. Einziges Lebenszeichen waren die Lichter im Erdgeschoss, die angingen. Er stieg aus dem Wagen und lief die Via Fabbri entlang, etwa hundertfünfzig Meter, bis er an die Fußgängerbrücke kam. Von dort konnte man über eine Böschung hinunter ans Ufer des Po di Volano klettern. Er arbeitete sich am Fluss, durch Gestrüpp und eingezäunte Gärten, zurück bis zu Silvias Haus.
Im April hatte er sich durch dieselben Dornen gekämpft, dieselben Hunde abgelenkt. Und er hatte Silvia zu Unrecht verdächtigt, dass sie hinter dem Tod ihres Mannes steckte.
Das Grundstück fand er dank der Magnolie wieder, die ihre ausladende Krone über eine Ziegelmauer streckte. Ansonsten war der Garten nicht wiederzuerkennen. Das Gras vertrocknet, die Möbel waren schmutzig, die Feuerstelle überwuchert.
Die große Glastür war erleuchtet, aber mit weinroten Stores verhängt. Lunau schlich sich über den Rasen und lauschte an der Scheibe. Kein Laut, keine Musik, keine Gesprächsfetzen, keine Schritte. Lunau liebte Stille. Aber diese Stille war unnatürlich, wie eine defekte Stelle auf einem Tonträger. Eine Stille, wie sie in einem Haus, in dem drei Personen lebten, noch dazu zwei Kinder, nicht vorkam.
Er entdeckte einen Spalt im Vorhang, und als er hindurchlugte, sah er den breiten Rücken eines Mannes. Er trug ein geripptes Unterhemd, hatte schwarze Locken, die auf einen muskulösen Nacken fielen. Ein Arm war angewinkelt und hielt ein Glas. Wohl der Bruder, von dem Silvia geredet hatte. Als er zur Seite trat und sein Halbprofil zeigte, konnte Lunau eine gewisse Ähnlichkeit entdecken. Dieser Bruder stand jetzt da, mitten im Wohnzimmer, wo vor kurzem noch Lunau gestanden hatte. Silvia sah Richtung Glastür, ihr Blick war leer, so starr wie das Haus, ihre Augen waren gerötet. Lunau erschrak. Eine solche Müdigkeit hatte er nicht einmal nach Vitos Ermordung gesehen, nichteinmal auf anderen Kontinenten, wo Menschen resigniert Dinge erduldeten, die sich Westeuropäer nicht vorstellen konnten.
Der Mann trat auf Silvia zu, umfasste ihren Nacken und drückte ihren Kopf an seine Brust. Und dadurch eröffnete sich Lunau der Blick auf das Sofa. Dort saß Sara und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, wobei sie den Kopf leicht schüttelte. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen aufeinander gepresst. Unter ihren Füßen waren weiße Flocken. Die Füllung eines Plüschtieres. Sara schien barfuß im Schnee zu stehen. Das Bild von dem Mädchen auf dem Sofa hatte auf den ersten Blick nichts Erschreckendes an sich. Doch es änderte sich nicht. Sara wippte, schüttelte den Kopf, Silvia und ihr Bruder schauten zu. Sie versuchten nicht, das Kind anzusprechen.
Lunau spürte, wie sich etwas in seiner Brust verkrampfte. Er hätte am liebsten geschrien. Er setzte sich in das trockene Gras und starrte weiter Sara an. Wieso haltet ihr sie nicht fest?, dachte er. Sara wippte vor und zurück, vor und zurück. Jetzt kniete sich Silvia neben sie und bewegte die Lippen. Sara schien ebenso wenig zu hören wie Lunau.
Wer auch immer dafür verantwortlich war - Michael, sein Auftraggeber, derjenige, der ihn mit falschen Informationen auf Lunau gehetzt hatte – Lunau schwor sich, er würde ihn zur Strecke bringen.
Und er würde es auf seine Art tun.
32
Er fuhr zurück ans Meer, zu dem Hochhaus, in dem Meseret mit fünf Kollegen gewohnt hatte, und klingelte. Niemand öffnete. Lunau sah auf die Uhr: 20 Uhr 14. Nun arbeiteten die Afrikaner nicht mehr am Strand. Aber wo waren sie? Er rief Oba auf dem Handy an. Dieser meldete sich nicht.
Lunau betrachtete das graue, unverputzte Gebäude, an
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