Der Tote am Lido
überpinselt hatte. Aber man konnte noch immer die Wörter »Clown« und »Verräter« erkennen. Bei wem hatte Gianella sich unbeliebt gemacht?
Um zehn Minuten vor acht kam der Fischer wieder aus dem Haus. In einem Anzug, der ihm zu knapp war. Er stieg in sein Auto, Lunau folgte. Nach sieben Minuten waren sie erneut am Hafen. Gianella parkte vor einem großen Bau.
Das Gebäude wirkte herrisch, grau und feindseligwie ein Weltkriegsbunker. Es lag in einem asphaltierten Areal, das von hohen Stahlzäunen umgeben war. Auf einem Schild war »Mercato ittico«, Fischmarkt, zu lesen. PKW kamen angefahren, Männer in wenig eleganter Kleidung stiegen aus und näherten sich aufgeregt diskutierend dem Gebäude, in dem Gianella verschwunden war.
Als der Zustrom verebbt war, stieg auch Lunau aus dem Wagen. An der Eingangstür des Gebäudes versperrten ihm zwei Männerrücken den Zutritt. Aber er konnte ein Podium mit Leinwand sowie Bankreihen sehen, auf denen dichtgedrängt die Besucher saßen.
»Was wollen Sie hier?«, fragte einer der beiden Türsteher. Er war fast einen Kopf kleiner als Lunau, hatte einen breiten Schädel, breite Schultern und kleine graue Augen. Er mochte dreißig oder fünfzig sein, sein Alter war so schwer zu schätzen wie bei den meisten Seeleuten.
»Ich bin von der Presse.«
»Wir haben keine Presse eingeladen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Er weiß es, glauben Sie mir«, sagte der andere, der sich nun ebenfalls Lunau zugewandt hatte. Dieser Mann war etwas größer als der erste, aber ebenfalls untersetzt. Er hatte kurzgeschorenes Haar und eine Tätowierung am Hals, die sich Richtung Nacken ausweitete.
»Worum geht es hier?«, hakte Lunau nach.
»Geschlossene Veranstaltung.«
Auf der Bühne hatten vier Männer Platz genommen. Ein Projektor warf das Bild von einem hellblauen,munter aus einem prallgefüllten Netz in den Himmel springenden Fisch auf die Leinwand. Das Logo der großen Fischereigenossenschaft von Goro. Einer der Männer war Diego Gianella. Auf dem Pappschild vor ihm stand: »Presidente.«
Lunau war sprachlos. Der Mann mit den O-Beinen und dem kahlen Schädel, der wirkte, als könnte er nicht bis drei zählen, war einer der mächtigsten Männer in diesem Ort. In diesem Ort der himbeerfarbenen Villen, der hubraumstarken Autos. Der Mann, der in Meserets Wohnung gesessen und sich als Vermieter ausgegeben hatte. Der Mann, der seine Zusammenarbeit mit Meseret verheimlichte, der alle Spuren, die darauf hinwiesen, beseitigt hatte.
Neben Gianella saßen ein Kassier und ein Vizepräsident auf dem Podium. Zwei Gesichter, die Lunau nicht kannte. Dafür aber das vierte. Ein Mann Mitte fünfzig, mit einer breiten Nase und einem missgebildeten Ohr, an dem das obere Drittel der Muschel fehlte. Auf dem Pappschild vor seiner Brust stand keine Funktion, nur ein Name: Totò De Santis.
Das war der Kerl, aus dessen Lieferwagen die Vu cumpra ’ gestiegen waren und der seinen Pitbull auf Oba gehetzt hatte. Er saß neben Gianella, er kannte Oba, er hatte Meseret gekannt. Aber was hatte der Händler, der die Schwarzen unter seiner Knute hatte, mit der Fischerei in Goro zu tun?
»Hören Sie schlecht?«, fragte der Türsteher und gab Lunau einen heftigen Stoß mit den ausgestreckten Armen.
Lunau verließ die Halle, machte einen Bogen und kehrte von der hinteren Längsseite zurück. Diese befand sich an einer Schutzmauer am Hafenbecken. Von dieser Mauer aus konnte man unbemerkt über den Zaun klettern. Lunau lief an die Rückseite des Gebäudes, presste sich an ein großes Stahltor und hörte das Gemurmel aus der Halle. Verstehen konnte er nichts, aber er hatte sein zweites Aufnahmeset dabei. Mit dem hochempfindlichen Mikrophon konnte er die Halle abhören. Ein Redner eröffnete die »außerordentliche Versammlung« der Genossenschaft »Pesce azzurro« und nannte den einzigen Tagesordnungspunkt: die Neuwahl des Präsidiums.
Lunau setzte sich auf die Schutzmauer, die aus spitzen Basaltsteinen geformt war, und blickte über den Hafen: ein weitgefasstes Becken, von dessen Rändern Molen abgingen. Daran waren Hunderte Fischkutter und kleine Kunststoffboote vertäut, die im Mondlicht schaukelten. Die Takelagen klingelten an den Masten, die Taue knarrten, dazwischen pfiff hin und wieder eine Seeschwalbe. Die Hitze des Tages war einer angenehmen Brise gewichen, die den Duft von Salz und Tang herantrug. Alles war normal. Bis auf die wuchtigen Außenbordmotoren, die an den kleinen Fischerbooten hingen. Wozu
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