Der Tote am Lido
haben. Er stellte denMotor ab, ließ das Boot ausgleiten und hielt sich an einem der glitschigen, mit Algen und Seepocken überzogenen Pflöcke fest. Einen Pfahlbau, ein mögliches Versteck, gab es hier nicht. Er starrte in das trübe Wasser. Hellgrün waberten die Algen, wirbelten Wolken von Schlick und Sand auf, Muscheln waren nicht erkennbar. Ein Grund, warum die Venusmuscheln in dieser Lagune so prächtig gediehen, war das nährstoffreiche Brackwasser, das der Po di Volano, ein südlicher Flussarm, mit dem Seewasser der Adria anrührte. Brackwasser, wie man es in Meserets Lungen gefunden hatte. Und wenn man Meseret hier umgebracht hatte? Im Streit um die Parzelle und die Konzession? Aber wieso nach Rückgabe dieser Konzession?
Da jaulte ein Motor, von einem der Pfahlbauten legte ein Boot ab, der Rumpf glitt in eleganten Volten zwischen den Pfählen hindurch und jagte auf Lunau zu. Das Boot drehte bei, und als der Bug sich senkte, konnte Lunau einen Wachmann mit Funkgerät und Holster an Bord stehen sehen.
»Wer sind Sie?«, rief er über das Brummen seines Motors hinweg.
»Kaspar Lunau. Ich recherchiere zur Konzession, die für dieses Grundstück vergeben wird.« Lunau reichte ihm seinen Presseausweis hinüber.
»Wozu?«
»Es geht um die Umsetzung der EU-Richtlinien zur Liberalisierung.«
»Davon hat man mir nichts gesagt. Haben Sie eine Genehmigung?«
»Wieso brauche ich eine Genehmigung?«
»Das hier ist Privatgelände.«
»Es ist öffentlicher Grund.«
»Aber er ist privat verpachtet, und wir sind für die Überwachung zuständig.«
»Dann können Sie mir vielleicht helfen.«
»Sie verstehen mich nicht. Sie haben hier nichts verloren.«
»Diese Parzelle war von Meseret Zahié gepachtet worden. Kannten Sie ihn?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. Lunau holte sein Handy hervor und zeigte dem Mann ein Foto von Meseret.
»Kenne ich nicht.«
»Das scheint mir unmöglich. Er hatte diese Parzelle hier bewirtschaftet.«
»Ich sagte es bereits: Nie gesehen.«
»Und den hier?«
Lunau zeigte ein Bild von Michael Duhula. Aber der Mann reagierte nicht.
»Seit wann arbeiten Sie hier?«, hakte Lunau nach.
»Ich glaube nicht, dass ich zur Auskunft verpflichtet bin.«
»Verpflichtet nicht, aber Sie könnten mit weiterhelfen.«
»Das kann ich nicht. Besorgen Sie sich eine Genehmigung von der Genossenschaft, die diese Parzellen bewirtschaftet. Dann können Sie wiederkommen.«
»Ich richte keinen Schaden an.«
»Das können Sie nicht beurteilen. Das Wasser istseicht, gleich ist Ebbe. Und sie pflügen hier mit Ihrem Außenborder durch die Zuchten.«
Lunau sah dem Mann in die Augen. Er war etwa so alt wie Lunau, hatte speckige Wangen und einen beachtlichen Bauch, er trug zwei schwere Goldohrringe und eine protzige Uhr.
»Sind Sie hier manchmal auch nachts?«
»Wir überwachen die Zuchten rund um die Uhr.«
»Vor etwa zwei Wochen, ist Ihnen da etwas Besonderes aufgefallen?«
»Wollen Sie mich nicht verstehen? Sie müssen das Gelände verlassen.« Er wollte einen Schritt auf Lunau zu machen, aber da brachte eine Welle ihn aus dem Gleichgewicht, und er musste sich an dem Kajütaufbau festhalten. Der geborene Seefahrer war er nicht.
Plötzlich nahm Lunau ein sanftes Brummen wahr, das fast ummerklich anschwoll und sich über die ganze Lagune verbreitete. Winzige Punkte schaukelten wie Möwen auf den Wellenkämmen, aber es waren keine Vögel, sondern Boote, die langsam größer wurden. Die 1200 Muschelzüchter schienen alle gleichzeitig in See gestochen zu sein.
»Warum kommen die jetzt?«, fragte Lunau.
»Ich sage es zum letzten Mal. Wenn Sie nicht sofort aus den Zuchten verschwinden, lasse ich Sie von der Küstenwache festnehmen.« Um seine Drohung zu unterstreichen, nahm der Wachmann sein Handy und tippte eine Nummer ein. Lunau winkte besänftigend ab.
»Wie heißt die Genossenschaft, an die ich mich wegen der Genehmigung wenden muss?«
»Ich dachte, Sie haben recherchiert? Und jetzt: Abflug.«
Der Mann ließ den Motor an und fixierte Lunau, bis dieser ebenfalls den kleinen Thomson gestartet hatte und sich zwischen den Parzellen hindurch Richtung Schifffahrtskanal orientierte.
Die Boote kamen ihm wie in einer Prozession entgegen. Die Männer waren in Overalls, Ölzeug und Wollpullover eingepackt. Die Gesichter trotz der sommerlichen Wärme hinter hochgeschlagenen Krägen, in Schals und Mützen versteckt.
Dennoch erkannte Lunau Diego Gianella. Er trug gelbe Stiefel und einen hellblauen Poncho.
Weitere Kostenlose Bücher