Der Tote im Eiskeller
anzusehen, als gehöre der Garten ihrer eigenen Familie, «liefert einige Samensorten bis nach Sachsen, bald sogar nach St. Petersburg, aber das ist noch nicht gewiss.»
«Vorsicht», warnte die Stimme von oben, «Vor-sicht!!»
Zwei Zapfen knallten auf die Erde, nur drei Schritte vor Hannes Füßen. Als sie erschreckt zurücksprang, stolperte sie, und Rosina griff nach ihrem Arm. Durch den groben Stoff der Bluse fühlte er sich an wie der eines Kindes, dünn, zart und doch fest, wie hart arbeitende Kinderarme manchmal sind.
«Willst du nicht eine Pause machen?», rief Hanne nach oben und schob Rosinas Hand, die immer noch ihren Arm hielt, sanft, aber bestimmt weg. «Du bist schon so lange in der Fichte. Komm doch runter, es ist sowieso Mittagszeit.»
Aus dem Wipfel klang etwas, von dem sich nicht entscheiden ließ, ob es ein leiser Fluch oder ein leises Lachen war. Die Zweige gerieten in heftige Bewegung, ein Seil fiel herunter wie eine tote Natter, gefolgt von der Stange. Kräftige Beine kamen zum Vorschein, ein prall gefüllter Sack fiel herab, und endlich glitt der ganze Mann am letzten, astfreien Stück des schuppigen Stammes zu Boden.
Hanne unterdrückte einen erleichterten Seufzer, undals der Mann sich zu ihnen umdrehte, als ein heller Blick sie traf, erkannte Rosina, dass sie sich im ersten Moment, als sein Kopf aus dem Grün auftauchte, nicht geirrt hatte. Der Mann, der für Elias Malthus Fichtenzapfen erntete, war der schwarzbärtige Harpunier. Der Grönlandfahrer, der auch den Keller im Wall mit dem Eis gefüllt hatte, das Malthus’ Bruder das Leben gekostet hatte.
Die meisten der Frauen, die im weiten Areal des Gartens arbeiteten, eilten für die kurze Mittagspause nach Hause, um ihre Kinder zu stillen oder zu füttern, ihren Männern die Mahlzeit zu wärmen oder zu sehen, ob das Schwein nicht aus dem Koben geflohen oder noch alle Hühner im Gatter waren. Auch Rutger Ermkendorf verschwand. Er hatte Rosina nicht mehr beachtet.
Die Jungen und Mädchen zogen es vor, ihre Pause nicht in der Nähe der Erwachsenen zu verbringen, so saßen nur drei Frauen mit Hanne und Rosina auf der Sonnenseite der Fichte zusammen. Alle – außer Rosina – packten ihre Mahlzeit aus: schwarzes Brot, ein Stück Käse, eine holte auch drei kleine Karotten aus ihrem Beutel, eine andere sogar einen Streifen Speck. Die war eine dicke Frau mit apfelroten Backen, trotz ihrer noch jungen Jahre fehlten drei ihrer vorderen Zähne. Da sie nur auf der linken Seite kaute, schien es mit den rechten Backenzähnen auch nicht zum Besten zu stehen.
«Hast du nichts mitgebracht?», fragte sie Rosina, ohne ihr Kauen zu unterbrechen. «Hast du gedacht, hier ist der biblische Garten und dir fliegt Gebratenes ins Maul?»
«Lass sie, Kath», sagte Hanne. «Rosa hat zu spät gehört, dass sie heute bei uns arbeiten kann. Da war keine Zeit für den Brotbeutel.»
«Rosa? Deine Mutter wollte wohl was Bessres sein. Rosa.»
‹Gleich›, dachte Rosina, ‹gleich fragen sie, wer ich bin, woher ich komme.›
Die bereitgehaltene Lüge war überflüssig.
«Im Gewächshaus steht ein Korb mit Birnen, Kath», sagte Hanne, «der Aufseher hat gesagt, wir können uns jede zwei nehmen. Die anderen, wenn sie zurückkommen. Sie sind überreif», rief sie der umgehend davoneilenden Kath nach, «pass auf die Wespen auf.»
‹Wer Fragen fürchtet, stellt am besten rasch selbst welche›, dachte Rosina und fragte: «Ist der Herr nicht hier? Monsieur Malthus? Er soll keiner sein, der nur im Kontor und im Kaffeehaus sitzt, sondern einer, der lieber in seinen Gärten arbeitet.»
«Das stimmt», sagte die Frau mit den Karotten, «stimmt genau. Aber er hat noch die beiden Pflanzschulen vor den Toren, da ist er oft, da sind jetzt auch die meisten Gärtner und Arbeiter. Und bei den Herrschaften mit den großen Gärten ist er auch oft. Jetzt wohl nicht», ihr Gesicht verzog sich in zufriedenem Grinsen, «die Hälfte ist ja bei der Flut abgesoffen, da kratzen sie immer noch Schwemmsand ab. Ich glaub nicht, dass die in diesem Herbst schon wieder pflanzen können.»
«Und viel zu viel Salz ist da im Boden», ergänzte Kath, die sich, die Schürze voller Birnen, wieder auf den umgestülpten Eimer hockte. «Bis da wieder was Feines wächst, das dauert.»
Sie öffnete ihre Schürze, ließ die Früchte ins Gras kullern und fand mit sicherem Griff die größte. Leider war nur deren Oberseite prall und unversehrt. Die Wespe, die sich in der aufgeplatzten Stelle an der
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