Der Tote im Eiskeller
stürmten. Und was sollte sie dort, bei den Herrmanns’, tun? Sie stünde dort nur im Weg.
«Was is?», hörte sie Kaths ruppige Stimme. «Wenn’s dir auch die Sprache verschlagen hat, kannst du trotzdem die Hände bewegen.»
Es ging schon auf Mittag, als Rosina klar wurde, dass sie vergeblich weiterarbeitete. Hier gab es für sie nichts mehr zu tun oder herauszufinden: Die nächtlichen Räuber waren gefasst. Zwei Frauen. Oder drei. Waren sie auch Viktor Malthus’ Mörder? Warum? Welchen Grund hatten sie gehabt? Außer dem üblichen Straßenraub, zu dem allerdings kaum ein Tod im Eiskeller passte, fiel ihr eine ganze Reihe von Gründen ein, warum Frauen sich zusammentaten und einen Mann überfielen und – wie es bei den anderen dreien geschehen war – der Lächerlichkeit preisgaben. Warum Viktor Malthus?
Dass es Frauen getan hatten, musste Anne tief beunruhigen. Egal, was wirklich der Grund gewesen war, wenn drei Frauen – womöglich junge – einen ‹lebenslustigen› jungen Offizier töteten, musste der Klatsch die allerschönsten Blüten treiben. Blüten mit üblem Geruch. Aber da war noch Wagners zögernde Erkenntnis, die ihrem ebenso unsicherenGefühl entsprach: Diese Überfälle und der Mord an Viktor Malthus hatten nichts miteinander zu tun. Möglicherweise.
Sie blieb, doch die Hoffnung, mehr zu erfahren, wurde enttäuscht. Und Hanne? Immer wieder ging ihr die blasse junge Frau durch den Kopf. Rosina war auch außerhalb des Theaters in viele Rollen geschlüpft. Als Tagelöhnerin hatte sie nie zuvor gearbeitet, sie kannte sich nicht aus, trotzdem zweifelte sie nicht daran, dass Hanne in diesem Garten eine besondere Rolle hatte. Vielleicht war der Grund das Naheliegendste: Selbst Elias musste einst ein Junge mit heißem Herzen gewesen sein, auch wenn ihr die Vorstellung schwer fiel, und vielleicht war er damals in das Mädchen Hanne verliebt gewesen, vielleicht glomm noch ein Rest dieser Liebe, die dem Sohn einer ‹guten› Familie nicht erlaubt war, in seinem Herzen. Wenn es stimmte, dass Hanne tüchtiger und klüger war als die anderen Arbeiterinnen, geriet ihm seine Nachsicht einer Kränkelnden gegenüber letztlich sogar zum Vorteil.
Hanne unterschied sich von den anderen. Sie konnte lesen und schreiben, und – das fiel ihr erst jetzt auf – sie sprach anders. In längeren Sätzen, geübter, mit besserer Sprache.
Als der Aufseher mit dem Läuten seiner Handglocke das Ende der Arbeit anzeigte, ging sie wie alle anderen zum Alsterufer und wusch sich Hände und Gesicht. Ihre Röcke sahen trotz der festen Schürze, die sie heute mitgebracht hatte, übel aus. Sie wusste, womit sie den Rest des Nachmittags verbringen musste, und hoffte, die Krögerin werde nicht zu viel fragen, wenn sie den großen Kessel für das Waschwasser über das Küchenfeuer hängte.
Die Arbeiter und Arbeiterinnen, es mochten heute etwa zwanzig gewesen sein, waren, kaum dass sie die Pforte passierthatten, wie der Wind verschwunden. Rosina glaubte nicht, dass sie es so eilig hatten, weil sie für den Bruder ihres Herrn beten und Kerzen anzünden wollten.
Vor dem Tor des Gartens kam sie sich plötzlich leer und überflüssig vor. Nur wenige Schritte weiter führte ein Gang in das immer noch Opernhof genannte Areal. Wo einst die alte Hamburger Oper gestanden hatte, stand nun das neue Ackermann’sche Theater. Vor einigen Jahren war sie für einige Monate Teil des grandiosen (und ebenso grandios gescheiterten) Versuchs gewesen, ein deutsches Nationaltheater zu errichten und zu erhalten. Nun gehörte es wieder der Ackermann’schen Truppe. Die war eine der besten und konnte trotzdem das große Haus nie füllen. Für die Becker’schen war es ein Glück, dass die Gesellschaft wieder einmal ihr Haus am Gänsemarkt für ein Zwischenspiel in einer anderen Stadt verschlossen hatte. Trotzdem spürte Rosina Bedauern. Einige der Mitglieder des Ensembles hätte sie gerne wieder gesehen, auch einige der Aufführungen, zum Genuss und um davon zu lernen. Sie war stolz gewesen, zu einem richtigen großen Theater in einem festen Haus zu gehören, zu diesem aufregenden, in die Zukunft weisenden Unternehmen. Trotzdem war sie bald zur Becker’schen Gesellschaft zurückgekehrt und hatte es nie bereut.
Und nun? Selbst der Duft der süßen Kuchen vom Stand neben der Pforte konnte sie so wenig hungrig machen wie der Vogelhändler neben dem Eingang zur Gerberstraße neugierig, was ein wirklich bedenkliches Zeichen war. Der Himmel hatte sich mit
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