Der Tote im Eiskeller
«Das wollten sie schon der Nachtwache weismachen. Eine ziemlich dumme Ausrede.»
«Warum?», entfuhr es Anne. «Es stimmt doch: Nachts ist es auf den Straßen trotz der vielen Wachen unsicher. Nicht nur für Frauen», fügte sie hinzu, «aber für die besonders.» «Ich bin ganz der Meinung Eurer Gattin», kam eine kühle Stimme vom unteren Ende des Tisches. «Wollte ich nachts in der Stadt herumspazieren, was mir gottlob bisher nie eingefallen ist, würde ich auch Männerkleidung anziehen. Ich finde, das ist ein sehr vernünftiger Gedanke.»
Alle Köpfe beugten sich vor, um zu sehen, wer da sprach.Nur Anne, Claes und drei oder vier andere hatten die Stimme von Madame Hecker erkannt.
Wilbur Heckers Ehefrau war eine auf den ersten Blick unauffällige Dame von mittlerer Größe. Sie war trotz ihrer dreiundvierzig Jahre noch schlank, das Gesicht verriet trotz des Zuges von Strenge und der schmalen Lippen noch die kühle Schönheit ihrer jungen Jahre. Ihr schon von silbrigen Fäden durchzogenes Haar war eher rot als braun, was der tiefgrauen Trauerkleidung eine überraschend elegante Note verlieh.
Sie hatte extra für diese Leichenfeier ihr Haus im Garten vor dem Steintor verlassen, was sie, wie jeder wusste, höchst selten tat, und das Baumhaus verspätet erreicht. Wieder einmal hatte die Kontrolle eines überladenen Fuhrwerkes das Tor versperrt. So hatte sie als Letzte den Saal betreten und sich, anders als es ihrer Stellung zukam, auf einen Stuhl am Ende der Tafel gesetzt. Das Raunen über ihre Anwesenheit, insbesondere ohne ihren Gatten, war nicht bis zur Mitte der Tafel vorgedrungen.
«Euer Erlebnis, Monsieur Herrmanns, interessiert mich ungemein. Aus sehr persönlichem Grund, wie niemanden überraschen wird.» An dieser Stelle wurde ihre Stimme noch kühler. «Verzeiht, wenn ich mich unwissend zeigen muss. Ich habe erst vor einer Stunde die Stadt erreicht und wusste nicht, dass diese schändlichen Überfälle aufgeklärt sind. Wenn, wie unser verehrter Kantor Bach gerade sagte, diese Frauen auch beharrlich schweigen, weiß man wenigstens, wer sie sind? Wie sie heißen?»
Eine der Damen, die nur drei Stühle von Madame Hecker entfernt saß, kicherte nervös, der Kommandant räusperte sich, Köpfe beugten sich verstohlen grinsend oder peinlich berührt über Teller und Schüsseln, und der Pastor, der viel vom Klatsch der letzten Wochen versäumt hatte,sagte munter: «Das möchte ich auch gerne wissen. Ich hoffe sehr, sie gehören nicht zu meinen Schäfchen, denn dann müsste ich mich sofort zur Fronerei aufmachen.»
«Ja, Madame Hecker», sagte Anne, die die im Raum stehende Mischung aus Peinlichkeit und Schadenfreude ärgerte. «Eine der beiden ist Euch bekannt. Sie war bis vor wenigen Wochen Eure Magd. Sie heißt …»
«Neele Ellert.» Madame Heckers Stimme hatte alle Farbe verloren. «Ist es Neele? Danke, Madame Herrmanns, ich weiß Eure klare Antwort zu schätzen.»
Sie lehnte sich steif zurück, griff ebenso langsam nach ihrem Glas, betrachtete den roten Wein und trank.
«Ja», sagte der Kantor und nickte Anne kaum merklich zu, «so ist es. Und jetzt», er warf seine Serviette auf den Tisch und erhob sich energisch, «jetzt ist der richtige Moment, die Trauermusik zu Gehör zu bringen, ich hoffe, das Cembalo ist gestimmt. Keine Sorge», erklärte er schmunzelnd, «der Mann, dessen wir heute gedenken, war jung und lebensfroh, also habe ich auch die Musik nicht zu traurig gemacht.»
Erfreulicherweise stand das Spinett im Nebenzimmer, Monsieur Bach wurde durch das Scharren der Bestecke in den Tellern und hin und wieder nicht zu unterdrückendes Geflüster kaum gestört. Als erfreulich wurde auch empfunden, dass der Kantor, der für sein grandioses, aber enorm ausdauerndes Spiel bekannt war, ein einsätziges Stück komponiert hatte, was aber einzig an der Kürze der Zeit lag, die ihm seit Viktor Malthus’ Tod zur Verfügung gestanden hatte.
Kaum war der letzte Ton verklungen, wurde das Dessert serviert, was erlaubte, die nun gebotene Andacht erheblich abzukürzen. Es gab Eiscreme aus Apfelsinen auf Biskuits, was ausgezeichnet mundete, obwohl die Wahl einer Eisspeisefür den Abschluss gerade dieses Mahls von wenig Empfindsamkeit des Kochs zeugte. Als sich die Stimmen senkten und wieder nur der zarte Klang von Löffeln auf feinem Porzellan zu hören war, sagte Madame Hecker plötzlich: «Könnt Ihr mir auch sagen, wie die andere Frau heißt, Madame Herrmanns?»
Die Löffel verharrten, alle Köpfe
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