Der Tote im Eiskeller
ich kenne ihn nicht, aber mein Mann, und ich habe von ihm gehört. Ist er nicht der Makler, der mit seinen Mietshäusern größere Einnahmen erzielt als mit dem Zucker? Claes hat erzählt, Müllerjohann denke, niemand wisse davon. Was natürlich absurd ist. Jeder weiß es. Warum auch nicht?»
«Ja», sagte Wagner, «warum auch nicht. In den meisten seiner Häuser regnet es durchs Dach, und die Mieter wechseln so oft wie er den Mietzins erhöht.»
«Ein honoriger Mann», murmelte Rosina, und Anne schwieg unbehaglich. Auch das Handelshaus Herrmanns hatte seine Geschäfte im vergangenen Jahr auf Vermietungen von Speichern und Wohnungen ausgedehnt. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, das stand ihr nicht zu. Aber jeder wusste, dass die Mieten in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen waren, und dass, wer den Mietzins nicht bezahlen konnte, gewöhnlich umgehend auf der Straße und damit auf dem direkten Weg ins Werkhaus landete. Wer nicht freiwillig ging, wurde von Soldaten hinausgetrieben.
«Das ist nun schon der dritte dieser seltsamen Überfälle», sagte sie. «Sie müssen Euch erhebliche Sorgen bereiten.»
«Seltsam, nun ja, sie sind tatsächlich seltsam. Und doch alle unterschiedlich. Es ist nicht gewiss, ob sie – sozusagen – von gleicher Hand verübt worden sind. Gar nicht sicher. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass alle Opfer wohlhabende Bürger sind. Mehr oder weniger. Sonst haben sie nichts gemeinsam. Keine Geschäfte …»
«Jedenfalls keine bekannten», murmelte Rosina.
«Keine familiären Verbindungen …»
«Jedenfalls keine bekannten.»
«Keine, nun ja, Laster …»
«Jedenfalls keine bekannten. Ach, Wagner. Die Sache mit den Lastern ist nun wirklich kein Grund. Verbotene oder verachtete Leidenschaften blühen selten in der Öffentlichkeit. Jedenfalls, wenn Ihr nicht schon ein gelegentliches Würfelspiel oder Besuche verbotener und trotzdem florierender Etablissements dazu zählt. Ich kann nicht glauben, dass Ihr uns weismachen wollt, einer sei ein braves Lamm, nur weil er dreimal in der Woche mit Frau und Kindern der Predigt lauscht und genug besitzt, um das Bürgerrecht und noch ein paar Privilegien zu beanspruchen.»
«Verboten ist verboten», schnappte Wagner. «Und wer Verbotenes tut, ist lasterhaft.»
Mademoiselle Hardenstein, das war klar, war in streitsüchtiger Stimmung. Allmählich zweifelte er an seiner Idee, sich auf den Weg zu Rosina zu machen, um wieder ihren Verstand wie ihr Geschick zu nutzen, sich unerkannt dort einzuschleichen, wo er keine Antworten bekam.
«Ist nicht einer der Männer Aufseher im Zuchthaus?», fragte Anne im Versuch, die Wogen zu glätten. «Er kann nicht wirklich wohlhabend sein.»
«Im Spinnhaus, Madame, und in der Tat kann er nicht …»
«Dass die Opfer alle, nun gut:
fast
alle wohlhabende Männer waren, zählt auch nicht, Wagner», fuhr Rosina unbeirrt fort, und ihre Augen blitzten in plötzlichem Vergnügen. «Sollte ich je das Komödiespielen satt haben und mein Metier auf den Straßenraub verlegen, würde ich gewiss keinen Hungerleidern auflauern. Es gibt noch eine andere Gemeinsamkeit, sogar zwei: Zum einen wurden alldiese Männer nur wenig gründlich beraubt, nun gut, bis auf den Letzten. Das würde ich sehr viel besser machen. Zum anderen, das scheint mir noch beachtenswerter, wurden alle an ungewöhnlichen Orten gefunden. In St. Petri, in einem Fleet, nun auf dem Armenfriedhof von St. Gertruden – und nicht zu vergessen: in einem Eiskeller. Tatsächlich sind es doch vier Anschläge.»
Anders als Wagner, der in Sachen Verbrechen überhaupt keinen Spaß verstand, fand Anne die Vorstellung von Rosina als Straßenräuberin höchst anregend und vergaß darüber, dass die Erwähnung des Eiskellers sie frösteln machen und betrüben sollte.
«Du musst daran denken, die nötigen Kostüme mitzunehmen, falls du das Theater verlässt», sagte sie und bemühte sich vergeblich um ein ernstes Gesicht. «Das von eurem Doktor Faustus mit dem wehenden schwarzen Umhang wäre genau richtig und ungemein kleidsam. Obwohl Jeans Hosen dir zu lang wären.»
«Der Eiskeller!», unterbrach Wagner das frivole Geplänkel mit ungewohnter Rigorosität. «Gerade der Eiskeller lässt mich zweifeln. Ein ungewöhnlicher Ort, in der Tat, aber er passt nicht dazu. Anders als die anderen ist er nicht für jedermann zugänglich. Und im Gegensatz zu den anderen Opfern wurde Oberleutnant Malthus überhaupt nicht ausgeraubt, nicht ein kleines bisschen.
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