Der Tote im Eiskeller
das anzusehen. Vor allem anzuhören.»
Das habe Pullmann, einer der Wundärzte der Garnison,wohl auch gefunden. Er habe darauf bestanden gehabt, die Soldaten an diesem Tag zu begleiten. Falls ein Unglück geschehe, habe er gesagt, aber wahrscheinlich, vermutete Börne, habe er sich nur gelangweilt und wieder einmal eine Front erleben wollen, wenn auch bloß eine von Wasser, Schlamm und mit Forken und Knüppeln bewehrten Bauern.
«Jedenfalls hat er sich des Mannes angenommen. Wie weit und in welcher Weise, weiß ich nicht, ich hatte Wichtigeres zu tun, als zu gaffen. Vielleicht weiß er einen Namen. Ihr findet Pullmann in dem Haus unterhalb der Bastion Didericus, bei der Mühle am Lombardhaus. Ihr könnt es nicht verfehlen, im Zweifelsfall folgt dem Geschrei. Sicher ist er gerade damit beschäftigt, ein Bein abzusägen oder einen Zahn zu ziehen. Sein Geschäft kann auch ohne Front ziemlich blutig sein.»
Wagner fand das Haus des Wundarztes, ohne jemanden schreien zu hören, was ihn sehr beruhigte. Nicht dass er beim ersten Tröpfchen Blut die Augen verdrehte und weiche Knie bekam, aber er hatte genug zerschlagene Knochen gesehen, um gerne darauf zu verzichten, einen Wundarzt bei der Arbeit zu erleben.
Das Haus stand an einem der schönsten Plätze der Stadt. Vom Fuß der Mühle ging der Blick über die Binnenalster und die ganze Stadt mit ihren roten Dächern und kupfernen Kirchtürmen, von der Höhe ihres Turms sogar bis über die Elbe. Nach der linken Seite, nach St. Jakobi und St. Petri hinüber, wandte Wagner sich nicht gerne. Dort standen am Ufer das Werk- und Zuchthaus, das Spinn- und auch das Drillhaus, an Letzteres wollte er gerade heute nicht mehr als unvermeidlich erinnert werden. Das rechte Ufer hingegen wurde von stattlichen Häusern gesäumt, manchenoch von schmalen Gärten umgeben. Dahinter ragten die beiden Schornsteine der Kalköfen hoch auf, und ein wenig weiter erkannte Wagner das Dach des Theaters im Opernhof. Das letzte Drittel bis zum Beginn des Jungfernstiegs begrenzte die Hecke des Malthus’schen Gartens. Sie war nur von dem Aufseherhaus unterbrochen, an seinem Anleger war ein kleiner Fracht-Ewer mit eingerolltem Segel festgemacht, der im vom auffrischenden Wind bewegten Wasser dümpelte.
Wagner nickte zufrieden. Er hatte es gern, wenn alles nah beieinander lag.
In seinem Rücken stand das trutzige, lang gestreckte Gebäude des Lombards. Als städtisches Leihhaus bedeutete es Kummer, Not und Sorge, der große Garten, der sich hinter ihm bis an die Brustwehr der Bastion Didericus erstreckte, mochte denen, die hier einen warmen Rock oder den letzten Silberknopf versetzten, ebenso wenig ein Trost sein wie die Aussicht von der Bastion über die äußere Alster und die liebliche Landschaft an den Ufern des Sees.
Dieses schöne Fleckchen Erde am Rande der Stadt hatte als eines der ruhigsten innerhalb der Wälle gegolten, seit jedoch die Brücke verbreitert und die sie überquerende schmale Straße verstärkt worden war, rollten auch hier mehr Wagen. Der letzte Müller hatte eine lukrativere Mühle außerhalb der Stadt gepachtet, und da sich kein neuer Pächter gefunden hatte, stand sie still. Neben der Tür des ehemaligen Müllerhauses hing ein großes Messer mit seltsam gekrümmter Schneide am hölzernen Griff und wies das Haus wie ein Ladenschild als Domizil des Wundarztes aus. Entweder legte Pullmann keinen Wert auf zartbesaitete Kundschaft oder er war ein Mann von bissigem Humor.
Bevor Wagner klopfen konnte, wurde die Tür aufgerissen,und er stand einer nicht mehr ganz jungen Frau mit erschreckten Augen im wachsbleichen Gesicht gegenüber. Die blaue Schürze über ihren Kleidern zeigte auf der Brust einen großen nassen Fleck, trotz des dunklen Stoffes war er eindeutig als Blut zu erkennen. Das andere, was darauf klebte, konnte nur Eiter sein.
«Lasst mich durch», keuchte sie, «so lasst mich doch vorbei.» Entschieden schob sie ihn, der nur stocksteif dastand, zur Seite und stürzte hinaus auf den Weg. Wagner hörte ihr Würgen, bevor er wusste, was er tun sollte, hatte sich ihr Magen schon beruhigt, erfreulicherweise ohne dass sie erbrochen hatte. Sie fluchte leise und atmete mit weit geöffnetem Mund die frische Luft, bis ihre Wangen wieder rosig waren.
«Ihr seid der Weddemeister», sagte sie, als sie sich zu ihm umwandte, mit ungeduldigen Fingern an den Knoten der Schürze zerrte und sie endlich vom Körper zog. «Wenn Ihr zu mir wollt, seid Ihr umsonst gekommen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher