Der Tote im Grandhotel
in den Angeln. Nur ließ sich jetzt das Fenster nicht öffnen. Oder sollte es möglich sein, förmlich darunter wegzutauchen? Den Riegel zu erreichen? Zu öffnen? Das Seil an das Fensterkreuz zu knoten und flach über die Fensterbank ins Freie zu rutschen? Wohl nicht mit diesem zerschundenen Körper.
Britta versuchte noch einmal vorsichtig, die Jalousie anzuheben, geradezurücken, den Mechanismus zu finden. Aber es war unmöglich.
Sie dachte an einen Urlaub in Nassau auf den Bahamas, wo sie sich bei einem Fest im Limbo versucht hatte. Es war dieser faszinierende Tanz, bei dem sich die Tänzer, rückwärts gebeugt, rhythmisch unter tief und tiefer gehängten Stangen hindurchschoben. Zum Erstaunen aller war sie darin sehr geschickt gewesen und hatte sogar einen Preis bekommen: eine große Strohpuppe mit einem bunten Puschel auf dem Hut, wie sie schwarze Ladies flochten und auf dem Markt verkauften, und einen Kuß von einem der einheimischen Beaus mit aufgeknöpftem Hemd über blanker, dunkelbrauner Brust und Samtlippen und einem Duft nach Blumen und Fisch.
Nicht weich werden. Sie mußte es schaffen, jetzt! Es gelang ihr mit der Kraft der Verzweiflung, die Jalousie eine Spur zu bewegen und das Fenster zu öffnen. Sie ruhte sich kurz aus, dann knotete sie das eine Ende ihrer Stoffgirlande an das Fensterkreuz. Sie handelte jetzt wie in Trance, als hätte jemand das Kommando übernommen, dem sie folgen mußte. Das andere Ende der Girlande knüpfte sie fest um ihre Taille.
Zwar war es unwahrscheinlich, daß alle Knoten und Stoffe halten würden, aber es war egal jetzt. Vielleicht gaben sie erst nach, wenn sie kurz über dem Erdboden war? Sie zog sich auf die Fensterbank hoch und hangelte sich, mit den Beinen zuerst, langsam an ihrem Seil hinunter. Sie spürte den Sims unter ihren Füßen und spähte nach unten. Niemand zu sehen.
Viele Menschen waren nicht auf diesem Anwesen, das stand fest. Sie atmete hastig und ließ die nächste Strecke Stoff durch ihre Hände gleiten, während sie versuchte, sich mit den Füßen festzuklammern, wie sie es in der Schule beim Seilklettern hatten machen müssen.
Ihre Knie schurrten an der Mauer. Die Hose und auch die Haut scheuerten durch.
Es war eine dunkle Nacht. Die Solarlampen am Weg leuchteten wie Glühwürmchen, ohne wirklich einen Lichtschein zu verbreiten.
Die letzten zwei Meter ließ sie sich einfach fallen. Sie landete auf dem Rasen. Daß der rechte Knöchel schmerzte, war unwesentlich. Geduckt huschte sie zwischen die einzelnen Büsche seitlich des Weges. Ein banger Blick zurück auf das Haus. Mehr kriechend als laufend erreichte sie dichteres Buschwerk, das ihr Schutz gab, bis sie auf die ebene Strecke gelangte, die auf einer Seite von einem kleinen See begrenzt wurde. Auf der anderen Seite war sicher die Auffahrt zum Haus mit dem Tor.
Sollte sie zu schwimmen versuchen? Sie war nicht darauf vorbereitet. Von ihrem Zimmer aus hatte sie den See nicht bemerken können. Eine gute Schwimmerin war sie ohnehin nicht. Sie wandte sich nach rechts und hörte Keuchen und Trappeln hinter sich.
Dann hatte die Dogge sie erreicht.
»Ganz lieb sein. Ich bin es«, sagte sie leise. Das Wunder geschah. Das Tier kam nahe heran und schnüffelte wie zufällig an ihr. Es lief um sie herum und blieb still.
Dann Juris Stimme: »Gregorij! Gregorij!« Ein Pfiff. Der Hund schien kurz zu überlegen, folgte dann aber dem Kommando.
Britta sank auf die Knie und verharrte auf allen Vieren. Da teilte sich das Gebüsch. Der Mann, der sie zusammen mit Juri in Empfang genommen hatte, starrte sie an. Er rief etwas, dann war auch Juri zur Stelle. Sie rührte sich nicht. Ein gestelltes Wild.
Beide Männer faßten sie an, zogen sie an den Ellenbogen hoch, führten sie zum Haus zurück. Gregorij, der Unvermeidliche bei ihren Demütigungen, rundete die kleine Prozession ab.
Drinnen hielt Juri sie weiter fest, als könne sie fortfliegen oder sich in Luft auflösen. Der andere Mann ging fort und kam nach einer Weile zurück. Sicher hatte er Onkel Kolja informiert und Weisungen eingeholt.
Die beiden Männer redeten laut und aufgeregt miteinander. Dann führte Juri sie zurück in ihr Zimmer. Er war plötzlich sanft und blickte sie traurig an. Sie vermutete, daß er heimlich Mitleid mit ihr hatte. Er würde schon wissen weshalb.
Onkel Kolja bestrafte sie sicher furchtbar, wie die Kinder in Pasolinis Film ›Salo‹ nach de Sades Roman. Langsam, grausam, tödlich.
Der andere Mann trat ein. Sie fesselten sie an
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