Der Tote in der Wäschetruhe
begibt sich erneut zu Juliane. Er holt aus dem Waschbeutel die Rasierklinge hervor, greift zur Flasche »Halb und Halb« und trinkt daraus in großen Schlucken. Er selbst will keine Schmerzen haben, wenn er sich die Pulsadern aufschneidet. Mit der Klinge ritzt er am rechten Handgelenk, bis es blutet. Dann setzt er sich vor Julianes Bett. »Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht«, jammert er wieder und wieder.
Etwa zehn Minuten vergehen. Juliane bittet ihren Peiniger, Hilfe zu holen. Den überkommt so etwas wie Reue. Juliane ist noch so jung, und sie erwartet ein Kind von ihm. Er rennt hinüber zum »Haus des Handwerks«.
Hertha und Kurt Ragow sind durch die schweren Stichverletzungen innerlich verblutet. Bei der Obduktion stellen die Gerichtsmediziner bei der Frau vier Stiche in die Brust fest. Einer hat die Lunge getroffen. Bei ihrem Mann haben die Messerstiche in den Oberbauch die Leber und die große Körperschlagader zerstört. Beide Opfer hatten höchstens in den ersten 30 Minuten eine Überlebenschance.
Die Verletzungen bei Juliane Ragow sind weniger schwer. Die zwei Stiche in den Brustkorb haben die Brustwand nicht durchstoßen. Das größere Problem aus medizinischer Sicht ist der Schock, den sie erlitten hat. Sie ist zwar ansprechbar, aber völlig apathisch. Einen Tag vor Silvester kann Juliane Ragow aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Wegmann stellt sich bei der Einlieferung ins Krankenhaus bewusstlos, doch sein Täuschungsmanöver misslingt. Die Verletzung am rechten Handgelenk ist minimal. Die Wunde blutet schon längst nicht mehr. Die Ärzte diagnostizieren das Öffnen der Pulsader lediglich als »Probierschnitt«.
Die Staatsanwaltschaft Cottbus beantragt noch am gleichen Tag Haftbefehl für Harry Wegmann. Das Kreisgericht Cottbus-Stadt verhängt gegen ihn umgehend Untersuchungshaft.
In den folgenden Wochen und Monaten wird Wegmann mehrmals vernommen. Die Kriminalisten der MUK vergleichen die trasselogischen, daktyloskopischen und Faserspuren vom Tatort, die in einem kriminaltechnischen Gutachten der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei bewertet werden, mit den Aussagen des Beschuldigten. Die Eltern von Harry Wegmann werden zur Entwicklung ihres Sohnes vernommen.
Ende Juni 1976 erhebt die Staatsanwaltschaft Cottbus Mordanklage gegen Harry Wegmann. Die Anklageschrift umfasst dreizehn Seiten.
»Der Beschuldigte hat in brutaler und kaltblütiger Weise das Leben von zwei Menschen vernichtet und ein weiteres Menschenleben angegriffen«, heißt es darin. Und weiter: »Das Motiv der verbrecherischen Handlungen des Beschuldigten ist von krassem Egoismus und beispielloser Rücksichtslosigkeit geprägt. Weil die Geschädigten sich nicht den egoistischen Wünschen und Vorstellungen des Beschuldigten unterordneten, wurden sie von ihm kaltblütig beseitigt.«
Der Lebensweg von Harry Wegmann war bereits vor den Morden alles andere als geradlinig und konfliktfrei. Mit sexuellen Entgleisungen hatte er, wie bereits erwähnt, mehrfach die Grenzen des Gesetzes überschritten. Bereits 1966 muss-te sich Wegmann als 18-Jähriger vor der Konfliktkommission seines damaligen Betriebs wegen Verbreitung pornografischer Bilder verantworten. Er kam mit einer Verwarnung der ehrenamtlich tätigen Kommissionsmitglieder davon. In Guben war er als Großkotz bekannt. Gern gab er sich als Mitarbeiter der Staatssicherheit aus oder als Fahrlehrer. Er belästigte mehrfach Mädchen und Frauen sexuell. Sie waren für ihn nur Objekte zur Befriedigung seiner Bedürfinisse. Mit 17 Jahren hatte er nach eigenen Angaben das erste Mal sexuellen Kontakt mit einem Mädchen. In der Folgezeit will er etwa 20 Sexualpartnerinnen gehabt haben. Zudem war Alkohol sein ständiger Feierabend-Begleiter.
1968 wurde Wegmann zur Nationalen Volksarmee der DDR eingezogen. Er gehörte zunächst einem Unteroffiziers-Ausbildungsregiment in Weißkeißel an, einem Armeestützpunkt unweit der deutsch-polnischen Grenze. Später war er dann im Panzerregiment in Cottbus stationiert. Seine Vorgesetzten hatten mehr Ärger als Freude mit ihm. Er war labil, starrsinnig, überheblich und von sich eingenommen, schrieben sie ihm in die Akte. Allein von Juli bis Dezember 1968 wurde Wegmann vier Mal bestraft, belobigt aber nie. Während eines Ausgangs vergewaltigt er das erste Mal eine Frau. Die Strafe von zwei Jahren und neun Monaten musste er nicht voll verbüßen. Ein knappes Jahr wurde ihm zur Bewährung erlassen.
In der Strafvollzugseinrichtung Bautzen
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