Der tote Junge aus der Seine - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
fragen.
Sie ließ das Kopfteil ihres Treca-Bettes hochfahren, bis ihr Körper in eine Sitzposition gelangte. Dann schaltete sie die Lampe auf ihrem Nachttisch an und nahm aus dessen
Schublade ein Fotoalbum. Die Zigarette zwischen die Lippen gepresst, schlug sie es auf. Da waren sie, die Bilder aus vergangener Zeit, als sie jung und schön gewesen war und begonnen hatte, die Film- und Theaterszene in der Stadt aufzumischen. Eine selbstbewusste schwarzhaarige Frau mit makellos weißen Zähnen und blutroten Lippen blickte ihr entgegen. Chantal Coquillon beim Festival in Cannes, neben Yves Montand und Francis Ford Coppola. Wintersporturlaub in St. Moritz in Begleitung von Françoise Sagan und deren Clique. Das erste gemeinsame Foto von ihr und Eric Lecadre 1987 in Deauville. Da kannten sie sich gerade zwei Wochen, und sie hatte ihn in ein Luxushotel ans Meer eingeladen. In einer schlechten Provinzaufführung in Nantes, wo er den »Hamlet« spielte, war sie auf ihn aufmerksam geworden. Eher durch Zufall, einen glücklichen Zufall, wie sie damals glaubte. Sie hatte ihre Eltern in Nantes besucht, und eine ehemalige Klassenkameradin überredete sie zu diesem Theaterbesuch.
»Den musst du unbedingt sehen, diesen Eric Lecadre!«, hatte Sylvie geschwärmt. »Ein Bild von einem Mann!«
So hatte alles angefangen. Verliebt bis über beide Ohren hatte sie Eric die Tür zu ihrem Universum geöffnet. Es war die Welt der Stars, des großen Geldes und des Glamours. Wenn eine Frau vierzig ist und ihr Liebhaber zwanzig, wirkt das aufregend und interessant. Insbesondere, wenn man sich den schönsten Mann geangelt hat und selbst als eine der mächtigsten Frauen im Kulturbetrieb gilt. Ja, sie waren ein attraktives, auffälliges Paar gewesen und hätten es lange bleiben können, wenn nicht … Mit einer heftigen Bewegung schlug Chantal das Fotoalbum zu und drückte
ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Ihre Hand sank kraftlos herab. Ein Anflug von Panik stieg in ihr hoch. Was ist nur aus dir geworden?, dachte sie. Und wie wird das alles enden? Ihr Herz pochte wie wild, und wieder einmal verspürte Chantal Coquillon diese lähmende Angst, die seit einigen Jahren immer öfter und immer stärker von ihr Besitz ergriff. War es die Angst vor dem Tod? Die Angst, dass Eric sie doch noch verlassen könnte? Jetzt, wo sie alt und verbraucht und ohne Einfluss war und seine Karriere schon seit vielen Jahren in festen Bahnen verlief? Nein, dachte sie und atmete schwer. Verlassen wird er dich nicht. Dazu ist zu viel geschehen, und er braucht dich. Jetzt mehr als je zuvor.
Etwas Dunkles lastete auf ihrer Seele wie eine schwere Decke, unter der sie nicht hervorkriechen konnte. Wollte sie es überhaupt? Dann würde ihr Leben zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Vor dem Abgrund, der sich dann auftun würde, schwindelte ihr. Es gab keinen Ausweg, keine Lösung. Nur die, die in greifbarer Nähe lag: das Röhrchen mit den Valiumtabletten auf ihrem Nachttisch. Zwei auf einmal, damit der Rest des Nachmittags ohne trübe Gedanken verging. Und sie vielleicht noch das zuletzt verfasste Kapitel ihrer Memoiren Korrektur lesen konnte.
Vor Yves Ribanvilles Jubiläumsparty heute Abend graute ihr. Sie war auch Erics Bitte nicht nachgekommen, den Moderator anzurufen und ihm Glück zu wünschen. Sie mochte den Showmaster nicht, ebenso wenig wie seine Frau, die amerikanische Dollarprinzessin. Als Chantal vor einigen Jahren zusammen mit Eric bei den Ribanvilles zum Essen
eingeladen war, hatte Candice zum Abschluss des Diners eine eisgekühlte Flasche Cognac auf den Tisch gestellt. Für Chantal war das ungefähr so, als sollte man Austern mit Messer und Gabel schneiden. Candice Ribanville wusste vermutlich bis heute nicht, dass man Cognac nicht eisgekühlt serviert. Ihr Mann hatte es ihr sicher nicht gesagt.
Seine Herkunft hütete Yves Ribanville zwar wie ein Staatsgeheimnis, doch Chantal hatte schon vor langer Zeit in Erfahrung gebracht, welches Geheimnis ihn umgab. Als er siebzehn war, hatte sich seine Spur verloren, bis er als junger Mann plötzlich in Paris auftauchte. Die Traumkarriere als bekanntestes Fernsehgesicht Frankreichs begann einige Jahre später. Ribanville verdankte sie verschiedenen glücklichen Umständen. Er fing als Lokalreporter beim Dritten Programm an und wechselte dann als Redakteur in die Unterhaltungsabteilung. Als Schützling und Freund eines mächtigen Gönners bekam er eines Tages seine Sendung Ribanville fragt . Wie alles in diesem Land war
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