Der tote Junge aus der Seine - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
sich eines Tages auf Nicks Lagerstatt neben der Buchsbaumhecke zum Schlafen niedergelegt. Auf seiner Pappe, seinem karierten Schlafsack. So begann ihre Freundschaft damit, dass er sie aufweckte und verscheuchte. Am nächsten Tag traf er sie auf der Rue des Pyrénées, wo sie sich mit einem Drogendealer herumstritt, der sie abzocken wollte.
Nick mochte sie, auch wenn er sich sonst von Frauen, die auf der Straße lebten, fernhielt. Sie nutzen dich nur aus, hatte ihm sein Kumpel Albin einmal gesagt. Albin war nun auch schon einige Zeit weg. Ob er tot war, wusste Nick nicht. Vielleicht hatte er einfach nur in ein anderes Arrondissement gewechselt?
Mit Lucy war Nick eine Weile zusammen. Sie kam von den Drogen weg, wurde clean. Es war ihm ein Rätsel, wie sie das geschafft hatte. Eines Tages jedoch verschwand sie spurlos. Er suchte sie an den Orten, die sie gemeinsam frequentiert hatten. Im Winter, drei Monate nach ihrem Verschwinden, sah er am Kiosk ihr Foto auf der Titelseite einer Zeitung. Mitten in Paris erfroren stand dort geschrieben. Und unter ihrem Bild, auf dem sie das Tuch trug, das er ihr
einmal geschenkt hatte, las er Wer kennt diese Frau? Er hatte sich nicht gemeldet. Nicht bei der Polizei, nicht bei irgendwelchen Ämtern. Warum auch? Lucy war tot, und er hätte der Polizei nichts über sie erzählen können. Den Namen des Kaffs, aus dem sie stammte, hatte er längst vergessen. Ihren Familiennamen kannte er nicht. Er hatte sich damit abgefunden, dass sie wie vieles in seinem Leben war: eine flüchtige Ahnung von Zukunft, die vage Möglichkeit von Glück und Beständigkeit, die sich schon allzu bald als trügerisch erwies.
Das Leben war weitergegangen. Es ging immer weiter, mal besser, mal schlechter. Im Augenblick schien Nicks Schicksal unter einem besonders guten Stern zu stehen. Zweitausend Euro … das hatte ihm dieser Fernsehfuzzi versprochen. Vor zehn Tagen war er im Park aufgetaucht. Nick hatte im Schatten der Buchsbaumhecke auf seinen Pappkartons ein Mittagsschläfchen gehalten. Das war, bevor die große Hitze kam und Nick die warme Jahreszeit noch richtig genießen konnte. Der Mann, er mochte Mitte zwanzig sein, vielleicht auch jünger, hatte ihn angetippt und gesagt, er sei vom Fernsehen. Sein Name war Michel, den Nachnamen hatte Nick nicht verstanden, weil er vom Schlaf noch ganz benommen war. Dieser Michel bot ihm zweitausend Euro an, wenn er in einer bekannten Quizsendung (die Nick nicht kannte, er sah nie fern) auftreten würde. Voller Misstrauen hatte Nick zugehört und sich gefragt, ob ihn hier einer verarschen wollte? Doch dieser Michel hatte es ernst gemeint und ihm einen Hunderter in die Hand gedrückt. So viel Geld hatte Nick noch nie besessen. Weitere zweitausend bekäme er vor der Sendung, hatte der
Typ gemeint und ihm eingeschärft, sich am Soundsovielten um soundso viel Uhr am Parkeingang Rue des Couronnes bereitzuhalten.
Nick hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Nur so viel hatte er begriffen: Er würde im Fernsehen auftreten. Millionen Menschen würden ihn sehen, und er würde für die Beantwortung einiger läppischer Fragen einen Haufen Geld bekommen. Zweitausend Fixum und das, was er durch richtige Antworten zusätzlich als Bonus gewinnen würde.
»Was sind das für Fragen?«
Der Fernsehfuzzi hatte gelächelt.
»Die sind kinderleicht. Alltagsfragen. Einfaches Allgemeinwissen.«
Nick konnte sich wenig darunter vorstellen.
»Was ist, wenn ich’ne Frage nicht beantworten kann?«
»Dann geht sie an die Zuschauer oder den anderen Kandidaten, der im Studio ist.«
»Wer is’n das?«
»Den kennen Sie bestimmt nicht.«
»Lebt der auch auf der Straße?«
Der Typ hatte kurz aufgelacht und ihm auf die Schulter geklopft.
»Nein, mein Lieber, der lebt nicht auf der Straße. Im Gegenteil!« Er drückte Nick seine Visitenkarte in die Hand.
»Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie am Tag der Sendung« (das war heute, Nick hatte es sich genau gemerkt) »auch tatsächlich zur Verfügung stehen? Sonst rufen Sie mich bitte rechtzeitig an!«
Das hatte dieser Typ gesagt. »Zur Verfügung stehen«. Nick hatte noch nie jemandem zur Verfügung gestanden.
Ob das ein Fehler war oder nicht, vermochte er nicht zu sagen. Hier jedenfalls bedeutete »zur Verfügung stehen« einen Haufen Kohle, und natürlich würde er die Verabredung einhalten, was sollte ihm denn dazwischenkommen? Er hatte diesem Michel die Hand hingestreckt und damit besiegelt, dass er zur Verfügung stehen würde.
Der Tag
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