Der tote Junge aus der Seine - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
Justizpalastes. Das war sicher von Vorteil, denn beim Anblick der aufgeschnittenen Leiche des Jungen würde ihm vermutlich übel werden. Schon am Vormittag, als der Tote aus der Seine geborgen wurde, hatte LaBréa nur mit Mühe einen Brechreiz unterdrücken können. Ein Kind war ermordet worden. Im Lauf seines Berufslebens hatte LaBréa viele Leichen gesehen. Einige waren schrecklich zugerichtet, andere zeigten kaum äußerliche Spuren des Verbrechens. Wasserleichen entstellten einen Menschen auf besondere Weise. Die Konfrontation mit Tod und Verwesung hatte zur Folge, dass ein gewisser Gewöhnungseffekt eingetreten war, sonst hätte LaBréa seinen Job an den Nagel hängen können. Doch bei Delikten an Kindern war es anders. An den Anblick eines ermordeten Kindes würde er sich nie gewöhnen. Ein hilfloses Bündel Mensch, zu Tode geprügelt,
verhungert, misshandelt … ein Säugling, in einer Plastiktüte erstickt und irgendwo in einer Mülltonne entsorgt … Der Gedanke daran löste jedes Mal von neuem Wut und Abscheu bei LaBréa aus.
Es gab da eine Geschichte aus seiner Kindheit. LaBréa war damals dreizehn Jahre alt gewesen. In seinem Haus im Vierzehnten Arrondissement wohnte auch eine Familie mit einer kleinen Tochter. Sie hieß Jeanne und war drei oder vier. Eines Tages war sie spurlos verschwunden. Ein Mann hatte sie nach der Vorschule abgepasst und entführt. Zwei Wochen später fand man sie in einem Hinterhofschuppen, zwei Straßen von ihrer Wohnung entfernt. Missbraucht und erwürgt. Die Polizei konnte den Täter schnappen. Es handelte sich um einen siebzehnjährigen Lehrling aus der Eisenwarenhandlung einige Häuser weiter. Das Strafmaß betrug lediglich zwei Jahre Jugendarrest auf Bewährung. Für Vergewaltigung und Mord an einem kleinen Mädchen … Dieses Erlebnis hatte LaBréa zutiefst geprägt. Er kannte die Kleine, und er kannte ihre Eltern. Und er war damals alt genug, um zu begreifen, was dem Mädchen angetan worden war. Die Mutter hatte den grausamen Verlust ihres Kindes nie überwunden und sich ein Jahr später das Leben genommen. LaBréas eigene Mutter hatte sich seinerzeit um die Frau gekümmert, deren Schmerz irgendwann zu groß gewesen war, um ihn ertragen zu können. Diese Geschichte hatte LaBréa nie vergessen. Immer, wenn es um den Mord an einem Kind ging, erinnerte er sich an das Geschehen von damals. Sah das lachende Gesicht der kleinen Jeanne, wenn sie im Innenhof des Mietshauses mit ihren Puppen spielte.
Er war am Ende des langen Flurs angekommen, der zu Brigitte Foucarts Reich führte. Noch einmal holte LaBréa tief Luft und vergewisserte sich, dass in der Tasche seines Jacketts eine Packung Papiertaschentücher steckte. Dann öffnete er die Tür zum Sektionsraum zwei.
Brigitte begrüßte LaBréa mit einem kurzen Nicken und winkte ihn heran. Der tote Junge lag mit geöffnetem Thorax auf einem der Tische. Die inneren Organe waren bereits entfernt worden. Ohne Umschweife kam Brigitte zum Wesentlichen.
»Hier, sieh dir das mal an.«
LaBréa zog ein Papiertaschentuch heraus, hielt es vor Mund und Nase und trat näher. Er sah zwei dunkel gefärbte, feucht schimmernde Organe in einer Metallschale auf einem der gekachelten Tische liegen.
»Ist das seine Lunge?«, fragte er schnell. Er war ungeduldig, wollte diesen Raum so bald als möglich wieder verlassen. Deshalb sprach er schnell weiter. »Hat er noch gelebt, als er ins Wasser geworfen wurde?«
»Ja, mit hundertprozentiger Sicherheit. Wasser in Atemwegen und Lunge. Und das ist auch die Todesursache. Aber …« Sie legte eine kleine Kunstpause ein, um die Spannung zu erhöhen. »In der Seine ist er nicht ertrunken.«
LaBréa starrte sie erstaunt an.
»Was? Wo denn sonst?«
Brigitte lächelte. Sie genoss es, LaBréa ein wenig auf die Folter zu spannen. Sie deutete auf die beiden Lungenflügel.
»Wäre er in der Seine ertrunken, müssten seine Lungen hellrosa sein und stark gebläht. Man könnte mit dem Finger hineindrücken, und es bliebe eine Delle.«
Sie drückte mit dem Zeigefinger auf einen der Lungenflügel. Nichts geschah, es blieb keine Markierung zurück. LaBréa zog die Augenbrauen zusammen.
»Und was heißt das jetzt?«
»Hier haben wir es mit sehr schweren und lila verfärbten Lungen zu tun. Was denkst du, woran das liegen könnte?«
LaBréa überlegte und zuckte mit den Schultern. Erneut lächelte Brigitte.
»Es liegt an der Salzkonzentration, Maurice.«
»Moment mal …« Er starrte Brigitte an und ahnte
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