Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Mutter, langsam aber sicher in die Breite, erst eins, dann zwei, dann drei … Als müßten von jeder Schwangerschaft zwanzig Pfund übrigbleiben, als müsse man als Frau dick werden, um den Kindern Schutz zu geben …
Familienbilder, der Erinnerung ausgesetzt wie alte Häuser den Jahrhunderten. Nun sah sie sich ein Schminktäschchen öffnen, Lippenstift, Lidschatten und einen aufklappbaren Spiegel hervorkramen, ein Erbstück der Großmutter mütterlicherseits, mit Perlmutt verziert. Sie zog die Lippen in einem dunklen Altrosa nach und betupfte die Augenlider dezent mit grünem Lidschatten. Unter den diversen Fläschchen in ihrer Tasche wählte sie einen ebenfalls altrosafarbenen Nagellack aus, verschmierte aber im Geruckel des Zuges den Zeigefingernagel, verschob das Lackieren der restlichen Nägel auf später, fand Nagellackentferner und Papiertaschentuch und wischte den verschmierten Finger sauber. An derlei Einzelheiten erinnerte sie sich stets genau. Die Bahn war durch den Tunnel gebraust, immer ganz dicht an dunklen Wänden entlang, daß ihr vom Hinausschauen beinahe schwindlig wurde. Wahrscheinlich machte gerade die Distanz die Nähe aus: In zu großer Nähe verschwammen ihr die Konturen der Dinge und der Menschen vor den Augen, als wäre sie kurzsichtig. Sie selbst konnte alles besser begreifen, wenn sie nicht immer mittendrin lebte, wenn sie aus sich herausgehen konnte und Abstand nahm.
Die Tabakfrau hatte in der Metro zufrieden an sich heruntergesehen. Sie belegte mittlerweile nicht mehr zwei Sitzplätze, was ihr immer unangenehm gewesen war, sondern kam jetzt mit anderthalb Sitzplätzen aus. Sie war so in Gedanken versunken, daß sie die begehrlichen Blicke vom Platz gegenüber gar nicht wahrgenommen hatte. Erst als die Blicke immer aufdringlicher durch ein spürbar zwischen ihre Beine drängendes Knie ergänzt wurden, bemerkte sie den Mann. Er mußte um die Vierzig sein. In seinen Augen kein Quentchen Einsamkeit oder Sehnsucht, sondern einzig und allein Begierde. Sie hatte kurz überlegt. Warum nicht. Sie sah wieder vor sich, wie sie ihn gemustert hatte, hörte sich noch einmal fragen: » Ce l’ha la macchina? « Der Mann hatte verwundert gesagt, ja, ein Auto habe er wohl, und dann wieder sie: » A mezzanotte a Mergellina. « Es klang gut, dieses a-me a-me , es klang in ihr nach: a me , für mich, a me , zu mir. Der Zug war in Fuorigrotta eingefahren, die Tabakfrau war aufgestanden, wie eine Diva den Gang entlangstolziert und ausgestiegen. Eine neue Variante. Sie hatte in sich hineingelächelt, gespannt, ob der Mann auftauchen würde, später, wenn die anderen Leute schliefen. Das war erst drei Tage her. Wie schnell die Zeit vergehen konnte. Der Mann war nicht aufgetaucht. Er hat es vermutlich mit der Angst bekommen, dachte sie. Ich war ihm ein Quentchen zu forsch. Ist doch eigentlich unglaublich, da schiebt mir wer sein Knie zwischen die Beine, aber wenn ich ausspreche, was er will, und die Initiative ergreife, zieht er den Schwanz ein. Forsche Frauen – unerwünscht.
Sie reckte sich. Es war egal. Sie mußte sich nicht mehr über Männer definieren. Sie dachte an Umberto, an das Boot, das Zimmer auf Procida, sogar im Auto hatten sie es getrieben, im Parco della Rimembranza am Ende von Posillipo, wo sich Pärchen trafen, die keinen intimeren Ort hatten, den Blick nicht etwa auf die Sterne oder den Golf von Neapel, sondern auf das Kleingedruckte in den Zeitungen, mit denen man die Autoscheiben verdeckte. Immer hatte er eine gute Flasche Wein mitgebracht, der Feinschmecker. Und er war es auch gewesen, der ihr die unterirdische Höhle gezeigt hatte, oder, wie er sie nannte: »die Liebeskammer des Dionysos«.
Die Tabakfrau war jetzt völlig entspannt. Eine ideale Situation für erotische Phantasien, stillzusitzen und nichts zu tun: nicht lesen, nicht reden, nicht stricken, nicht fernsehen, nicht aufstehen, nicht einmal mehr denken oder sich anderweitig anstrengen, einfach nur da sein, schauen. Die Blicke wanderten nach innen, in unbekannte Gegenden. Die Haut begann zu prickeln. Doch es ging nicht mehr allein um den Körper. Noch einmal der letzte Abend – der sich auch in der Erinnerung keinen Deut romantischer ausnahm als in Wirklichkeit. Von wegen: die Zeit heilt alle Wunden und das Gedächtnis bügelt alles Krause glatt … Sie hatten herausgefunden, daß sich diese Höhle von ihrem Laden aus in fünf Minuten erreichen ließ. Die Tabakfrau kannte die unterirdischen Gänge aus ihrer Kindheit. Sie und
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