Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
daß in den Quartieri von fast jedem Haus aus eine Treppe nach unten führt, natürlich auch vom Tabakladen aus. Die Kinder haben früher manchmal da unten gespielt, ein herrliches Versteck.« Sie mimte nachträgliche Entrüstung. »Das war natürlich verboten! Weißt du noch? Als Luigi den Schlüssel geklaut hatte …«
Die Tabakfrau tat ihr den Gefallen und erzählte die Geschichte aus ihrer Sicht. »Man mußte den Schlüssel stiebitzen, denn es war natürlich verboten, da unten zu spielen. Und einmal wollte Luigi, der Älteste, alleine runter, und Elsa, meine Schwester, mußte hinter ihm zuschließen und den Schlüssel zurückhängen, damit die Eltern nichts merkten. Luigi ist den ganzen Tag unten geblieben, und wir mußten so tun, als wüßten wir nicht, wo er steckt.« Sie schmunzelte. »Er hatte uns einen Anteil vom Schatz versprochen. Und wir hatten genug Zeit, uns alle möglichen Geschichten auszudenken, was für Ungeheuer oder Piraten ihm über den Weg laufen könnten, wie viele bis zum Rand mit Gold gefüllte Schatztruhen er wohl finden würde.«
Die Mutter der Tabakfrau nickte.
»Später ergab sich dann einfach keine Gelegenheit mehr, Luigi unbeobachtet wieder herauszulassen. Immer wenn meine Schwester oder ich den Schlüssel vom Haken nehmen wollten, kam irgendwer vorbei, es war wie verhext. Also kam unser Bruder abends nicht nach Hause, wie sollte er auch. Nachts sind wir heimlich aufgestanden, um ihn hereinzulassen, aber der Schlüssel war weg. Also haben wir am nächsten Morgen alles gebeichtet. Und als der Vater feierlich die Tür aufschloß, saß Luigi auf einer der oberen Treppenstufen und schlief.«
»Er sah dabei so friedlich und unschuldig aus, daß wir alle auf der Schwelle stehenblieben und staunten«, ergänzte die Mutter.
»Allerdings verschwand der Schlüssel auf Nimmerwiedersehen, und wir sollten eine ganze Woche lang nicht auf die Straße«, fügte die Tabakfrau verschmitzt hinzu. »Was zu so ausgiebigen Prügeleien unter uns Kindern führte, daß der Vater beschloß, die Strafe schon nach drei Tagen wieder auszusetzen.«
Später tranken sie Espresso. Die Tabakfrau bat Livia, von ihrer Arbeit zu erzählen, und Livia berichtete vom Verfall der Kirchen nach dem Erdbeben und von den skrupellosen Diebstählen. Erst vor zwei Monaten waren aus Santa Maria Egiziaca a Forcella ein Gemälde von Luca Giordano und acht Bilder unbekannter Meister verschwunden. Sogar in den Palazzo Reale waren die Kunsträuber eingedrungen und hatten diverse Gemälde mitgehen lassen, darunter auch eines von Artemisia Gentileschi. »Die Malerin, von der ich Ihnen neulich erzählt habe.«
Die Tabakfrau nickte. Ihre Mutter war empört. Mit Kirchen kannte sie sich aus, sie kannte fast alle Kirchen im historischen Zentrum der Stadt. Ihr fiel eine weitere Anekdote aus Kriegstagen ein. In der Kirche Santa Patrizia, unweit der Piazza San Gaetano, sagte sie, lebten damals Nonnen in Klausur, für die in einem Brunnenschacht im Klosterhof ein Extrazugang unter die Erde gebaut wurde, damit die Nonnen sich bei Fliegeralarm bequem in Sicherheit begeben konnten, ohne mit anderen Sterblichen zusammenzutreffen. Und damit sich die Welten auch unter der Erde nicht vermischten, war der unterirdische Gang zugemauert und die Nonnen durch eine Luke mit Lebensmitteln versorgt worden. Sie selbst war damals achtzehn gewesen und sagte, besonders in den langen, beängstigenden Tagen und Nächten unter der Erde habe sie lange darüber nachgedacht, ob es sich wohl lohne, zu beten und ebenfalls in ein Kloster zu gehen. Aber sobald sie wieder hoch ans Sonnenlicht kam, gehörten derlei Gedanken dem Spuk der Unterwelt an. Kurz nach dem Krieg hatte sie ihren Mann kennengelernt, dann drei Kinder bekommen, inzwischen sieben Enkel und wer weiß, vielleicht bald einen Urenkel.
Sie zwinkerte ihrer Tochter zu, die keinerlei Reaktion zeigte. »Wie das Leben so spielt. Wie Gott es will.«
43
Doch nun studierten sie zunächst die Klingelknöpfe der beiden Aufgänge des Palazzo. Die Großtante Umbertos hieß, wie die Gemüseverkäuferin verraten hatte, mit Nachnamen Bevilacqua. Natürlich gab es kein Schild mit dieser Aufschrift. Also versuchte Marlen es nacheinander bei den vier unbeschrifteten Klingeln. Nichts rührte sich. Die gegenüberliegende Haustür fiel mit einem lauten Knall ins Schloß.
»Suchen Sie jemanden?« Eine Frau mit Schürze schlurfte heran.
»Die Signora Bevilacqua«, sagte Livia.
»Da können Sie lange klingeln«, sagte die
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