Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
übergeworfen, ein Joghurt im Stehen, während der Espresso durchlief. Dann verschwand sie mit der Tabakfrau im Atelier.
Währenddessen lag Marlen im Halbschlaf auf dem Bett. Doch plötzlich wurde sie geweckt, und zwar von einem durchdringenden Schrei, auf den eine Schimpftirade folgte: »Nein! Das ist nicht möglich! Va’ fa’ ‘n culo! Figli di puttana, maledetti! Stronzi di merda! Maledizione! Porca miseria! Va’ al diavolo! Va’ a fatte fottere! « Es war Livia, die da brüllte, zuerst entgeistert, dann zunehmend wütend und lauter. Marlen sprang aus dem Bett und lief im T-Shirt ins Atelier. In der Mitte des Raumes fand sie fassungslos die Tabakfrau, zwei Schritte weiter weg stand Livia, die Fäuste geballt, der die Tränen über die Wangen liefen. Dann sah auch Marlen das zerfetzte Gemälde. Es war das Selbstbildnis Livias, eines der ersten Bilder aus der Zeit an der Akademie, an dem Livia sehr hing. Es war völlig zerstört. Jemand hatte die Leinwand zerschnitten, und zwar so gründlich, daß das Bild in Fetzen aus dem Rahmen hing.
»So eine Gemeinheit«, schluchzte Livia. Marlen nahm sie fest in den Arm. Sie fragte sie, ob irgend etwas fehle, ob Bilder gestohlen seien. Aber Livia schüttelte nur den Kopf und ließ sich erst einmal von Marlens Armen tragen. Keine der drei Frauen sagte ein Wort. Schließlich stieß Livia einen abgrundtiefen Seufzer aus, der all ihre Wut und ihre Trauer an die Luft setzte, löste sich von Marlen, stampfte mit dem Fuß auf. »Scheiße. Verdammte Scheiße. Wenn ich den kriege.« Am Abend zuvor, das wußte sie genau, war das Bild noch intakt gewesen. Irgendwer mußte im Verlauf des Abends, in der Nacht, als Livia und Marlen auf Robertos Fest waren, eingestiegen sein – das Fenster stand in der Tat halb offen – und das Bild, ausgerechnet dieses Bild, mutwillig zerstört haben. Eine unglaubliche Schweinerei.
»Da will sich jemand rächen«, sagte mit rauher Stimme die Tabakfrau, die die Szene schockiert verfolgt hatte. Das zerstörte Porträt war genau das Bild, das sie bei ihrer letzten Malsitzung so ausführlich betrachtet hatte. Sie hatte noch im Ohr, wie Livia erzählte, sie habe es Artemisia Gentileschi nachempfunden. Die Tabakfrau hatte zwar keine Zeit gefunden, ins Museo di Capodimonte zu fahren, aber sie hatte in einem Buchladen in der Galleria Umberto I. gestöbert, der hauptsächlich Bildbände zu italienischer Kunst verkaufte, zum Teil billige Hefte in DIN-A4-Format, auch eines über diese Gentileschi. Sie hatte es gekauft und tatsächlich das Selbstbildnis La pittura darin gefunden. Auch ein anderes Bild hatte sie beeindruckt: zwei Frauen, die dabei waren, einem Mann den Kopf abzuschneiden, den Titel hatte sie vergessen. Und nun war jemand tatsächlich mit dem Messer zu Werke gegangen. Messer statt Pinsel, dachte sie, nicht den Kopf abgeschnitten, sondern eine Leinwand zerfetzt.
Soweit sie es im Moment überschaue, sagte Livia, sei nichts gestohlen worden. Alle übrigen Bilder waren unversehrt. Wer auch immer hier eingedrungen war, war zielsicher vorgegangen.
»Sieht aus wie eine handfeste Drohung.« Marlen sprach aus, was die Tabakfrau als Rache bezeichnet hatte und wofür Livia kein Wort hatte. Ja, eine Drohung.
»Wer wußte denn, daß das ein Selbstporträt von Ihnen ist?« fragte die Tabakfrau.
Livia sah sie an. »Alle. Jeder, der mich einigermaßen gut kennt. Wollt ihr etwa sagen, das soll eine Vorwarnung sein? Zuerst das Bild und dann ich?« Sie lachte nervös. »Ich wußte noch gar nicht, daß ich in Camorra-Kreisen verkehre.« Dann fing sie Marlens Blick auf und verstummte. In Camorra-Kreisen vielleicht nicht. »Meinst du etwa …«
Marlen nickte.
Die Tabakfrau blickte von einer zur anderen. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann…«, begann sie vorsichtig.
Livia sah finster aus. »Wenn da jemand glaubt, daß ich mich durch eine Messerstecherei auf der Leinwand ins Bockshorn jagen lasse, hat er – oder sie – sich aber kräftig getäuscht.« Sie ballte die Fäuste, wandte sich an Marlen. »Was sagst du dazu? Sollen wir aufgeben? Gerade jetzt, wo die Sache ins Rollen kommt, wie man hier so anschaulich sieht?«
»Du bist es, die hier lebt«, sagte Marlen. »Nicht ich. Es sind deine Bilder, es ist dein Zuhause, deine Stadt. Und insofern auch eher dein Risiko. Ich fahre demnächst wieder nach Hause und bin dann weg vom Fenster. Aber du bekommst möglicherweise noch größere Scherereien. Also, wenn du willst, hören wir auf. Wenn du weitermachen
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