Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
willst, machen wir weiter.«
Livia nickte. Die Entscheidung war für sie schon gefallen, seit langer Zeit. Wie hatte sie gesagt? Als Frau kannst du es dir in Neapel nicht leisten, Angst zu haben. Das war nur halb richtig. Angst war völlig in Ordnung, aber etwas anderes war es, klein beizugeben. Sie wollte sich nicht abfinden mit der Kriminalität, die – aus welchen sozialen und politischen Gründen auch immer – in Neapel die Oberhand hatte. Es wäre gleichbedeutend gewesen mit Resignation, mit Selbstaufgabe. Sie war einer heißen Sache auf der Spur, und dieser Spur würde sie weiter nachgehen und notfalls die Kriminalpolizei einschalten.
»Jetzt erst recht«, zischte sie. »Wozu arbeite ich in der Dokumentation Kunstdiebstahl.«
Und zur Tabakfrau gewandt, mit Trotz und Kampfeslust in der Stimme: »Gut, daß Sie gekommen sind. Malen bringt mich auf andere Gedanken. Und solange ich malen kann, entstehen auch neue Bilder. Wie sieht es aus, wollen wir anfangen?«
Die Tabakfrau protestierte. Sie könne problemlos ein anderes Mal wiederkommen. Unter diesen Umständen sei Livia sicherlich nicht in der Stimmung …
»Ha!« rief Livia. »Da kennen Sie mich aber schlecht. Ich lasse mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen! Und Grübeln macht keine Sache besser. Vor allem dann nicht, wenn man sowieso Kopfweh hat.« Sie zeigte auf das Regal mit den Kassetten und hievte das halbfertige Porträt der Tabakfrau auf die Staffelei. »Suchen Sie bitte heute die Musik aus. Mir ist alles recht.«
Marlen sah sich das halbfertige Bild an. Sie erkannte die Nackenlinie, den auffallend schmalen, länglichen Kopf der Tabakfrau, der wie nachträglich auf den Körper gesetzt schien, zu klein, unproportioniert – ein unfleischlicher Beschluß, nicht in gleichem Maße in die Breite zu gehen wie der restliche Körper. Diese Leichtigkeit, diese Verletzlichkeit. Der rote Mund war der einzige Farbfleck auf der Leinwand. Lange, offene schwarze Haare mit vereinzelten grauen Strähnen. Ein Blick voller Neugierde. Eine Frau im Aufbruch. Wie gut, daß niemand auch dieses Bild zerstört hat, dachte Marlen, bevor sie das Atelier verließ.
41
Livia hatte das zerstörte Bild abgehängt. Die Tabakfrau blickte von ihrem Stuhl aus wie immer auf den Paravent, die Leinwand, nun auch auf das weiße Rechteck an der Wand, wo das Selbstporträt – vermutlich seit vielen Jahren – seinen Platz gehabt hatte. Sie machte sich Sorgen um die Malerin und um Marlen. Aber man konnte niemanden dazu zwingen, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen. Und was konnte sie, Assunta Maria Balzano, schon tun? Wie hätte sie helfen sollen? In den wichtigsten Fragen des Lebens war man allein und mußte allein Entscheidungen fällen. Trotzdem, ein Ratschlag von außen konnte hilfreich sein. Sie dachte an ihre Kinder und daran, wie schwer es war, selbständig zu werden, daran, daß sie selbst immer noch damit beschäftigt war, erwachsen zu werden, sich zu lösen, ein langwieriger Prozeß, über Jahre hinweg, mit Rückschritten und Fortschritten: die Übernahme des Tabakladens, die Trennung von ihrem Ehemann, der Beschluß abzunehmen, das Entdecken des eigenen Körpers, das zunehmende Vertrauen in das eigene Ich.
Sie verlor nun auch das weiße Rechteck aus den Augen und blickte in eine unbestimmte, verschwommene Ferne, die allerdings immer näher rückte, als kurbelte sie an einer Zeitmaschine und verwandelte die Staubteilchen in lebendige Menschen: vor dem Tabakladen der Vater, mit Schnurrbart und Weste, untersetzt, aufrecht, blitzende, stolze Augen, bereits gewohnt, Mann zu sein und Mann der Frau, die neben ihm stand, vollschlank, ein wenig verloren in die Kamera schauend, einen Säugling im Arm. Dahinter die Großeltern väterlicherseits, vier Hände, die auf den Schultern des Vaters ruhten. Sein älterer Bruder war in Äthiopien umgekommen, Italienisch-Ostafrika, Kehle durchgeschnitten, ein Trupp Eingeborener, wer sonst, so hieß es, er war Soldat, doch niemand wußte es genau und niemand wollte es genauer wissen. Den jüngeren Bruder hatten die Deutschen erwischt, auf ähnlich undelikate Weise, oder es waren die Partisanen gewesen. In jedem Fall der Krieg, ein Ungeheuer wie in gruseligsten Kinderbuchtagen, das die Männer verschlang, die fahnenschwenkend und frauenküssend davonzogen. Und ihn verschmäht hatte, der somit den Laden bekam, das Familienerbe, mit Stolz auf sich und die Seinen aufgenommen vom Scheitel bis zur Sohle. Währenddessen ging seine Frau, ihre
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