Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
länger, was weiß ich.«
»Und wie ist sie dazu gekommen?«
Die Tabakfrau schnaubte. »Irgendwelche Freunde, ein Kerl mit Riesenschwanz, Neugier, Langeweile, was weiß ich. Wenn ich sie darauf anspreche, sagt sie, daß es ihr Spaß macht. Daß es ihr nicht schadet. Daß sie auf paßt. Daß sie es im Griff hat. Daß sie ihr eigenes Leben lebt, und daß ich mich raushalten soll. Diese Arie. Können Sie sich vielleicht vorstellen.«
Marlen kannte derlei Zornausbrüche auch von Luzie. Sie konnte von Glück sagen, daß es dabei um andere Dinge ging. Kleinigkeiten im Vergleich, dachte sie: Rauchen, Klamotten, der Motorradführerschein, Trennungen.
Die Tabakfrau zog einen Stapel Zeitungsartikel aus dem Regal. »Hier. Ich habe angefangen zu sammeln. Das lege ich ihr von Zeit zu Zeit hin. Da wird einem schon beim Lesen schlecht. Ihr vielleicht auch. Wenn sie schon nicht auf mich hören will, soll sie wenigstens informiert sein. Überdosis beim zweiten Schuß. Verschmutzte Spritze: Blutvergiftung. Dreizehnjährige als Dealer. Prostitution für das weiße Pulver. Die Milliarden der Drogenkartelle. Der Zerfall des Körpers. So was lege ich ihr hin. Vor kurzem ist an der Uni ein Hausmeister verhaftet worden, er soll das Zeug direkt an die Studenten verkauft haben. Vor den Schulen stehen sie auch. Der Krieg von damals, der ist vorbei, aber der Krieg von heute, der zieht ganz andere Kreise.« Sie holte tief Luft. »Man kann sie doch nicht alle umbringen, die kleinen Dealer, die großen Bosse«, sagte die Tabakfrau verzweifelt. Was konnte sie schon tun. Ihre Söhne losschicken, damit sie alle dreckigen Dealer Neapels verprügelten? Die Polizei einschalten? Selbst losziehen? Sich eine Pistole besorgen? Auch wenn sie erfolgreich wäre bei einem, zweien, dreien – es war ein Faß ohne Boden, ein aussichtsloser Kampf, der kein Ende nehmen würde, vor allem kein gutes.
Sie stand auf, rang die Hände, sah auf einmal alt und müde aus. »Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, wie es Ihrer Tochter geht.«
Marlen hatte einen Kloß im Hals. Sie konnte jetzt nicht erzählen, daß Luzie inzwischen mit einer Freundin zusammenwohnte und gerade in England war und vorhatte, Sport zu studieren, und ihre eigenen Wege ging. Daß soweit alles in Ordnung war. »Vielleicht hört Anna irgendwann von selbst auf«, sagte Marlen beklommen.
»Vielleicht«, nickte die Tabakfrau.
Beide wußten sie, daß dieser Trost so dürftig wie unrealistisch war. Die Tabakfrau ging zur Anrichte, wühlte in dem Durcheinander, bis sie fand, was sie gesucht hatte: drei kolorierte Schwarzweißpostkarten von Neapel. »Hier, schicken Sie die nach Hause. Das ist das einzige, was übriggeblieben ist: bunte Ansichten einer beschissenen Stadt.«
4
1993 schien ein Rekordjahr zu werden. Bereits im ersten Quartal waren mehr Kunstdiebstähle gemeldet worden als in den drei Jahren davor zusammengenommen.
Livia ging stirnrunzelnd die Zahlen durch, die der ratternde Drucker soeben ausspuckte. Seit dem Erdbeben vom 23. November 1980 waren insgesamt 2455 Kunstobjekte aus 247 Kirchen und anderen Gebäuden gestohlen worden. Und es wurde immer schlimmer: 111 gestohlene Kunstobjekte allein von Januar bis Ende März dieses Jahres, darunter 19 Marmorintarsien, 8 Skulpturen, 32 Gemälde, 48 sonstige Gegenstände, keine Krippenfiguren. Livia verglich die Zahlen mit denen der Gesamtstatistik. 1984 waren insgesamt 85 Bilder gestohlen worden, 1986 sank die Zahl auf acht. In diesem soeben beendeten ersten Quartal 1993 waren im Zeitraum von nur drei Monaten bereits 32 Gemälde geklaut worden. Wenn man die Zahl auf das Jahr hochrechnete, käme man im Dezember auf über 120 gestohlene Bilder – das ließ Livia als Malerin nicht kalt, während geklaute Kruzifixe ihr – abgesehen vom kulturgeschichtlichen Gesichtspunkt – so egal waren wie der Gesundheitszustand des Papstes.
»Hast du die Zahlen schon gesehen? Ein Hoch auf die Kunsträuber, oder?« Rosaria schaute zur Tür herein, ging zum Fenster. »Ohne sie könnten wir den Laden dicht machen.« Rosaria verfügte über einen ganz eigenen, grauschwarzen Humor, der ihr selbst gut durchs Leben half, anderen aber zuweilen zu sarkastisch war.
»Ich könnte auch gut ohne«, gab Livia zurück. »Sind reichlich viele Gemälde dabei in diesem Winter.«
»Dann kommt ja eine gewaltige Auftragswelle auf dich zu.« Rosaria grinste unbekümmert. »Madonnenbilder im Stil des 18. Jahrhunderts für unsere neapolitanischen Kirchen.«
Livia verdrehte die
Weitere Kostenlose Bücher