Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Häusern geschossen, und die Neapolitaner nehmen schließlich die Deutschen gefangen – das war ein Triumph, Umgekehrt haben die Deutschen dann wieder Neapolitaner erschossen, in der Villa Comunale, einfach so, und dazu dann diese Bekanntmachung, daß jeder Deutsche hundertfach gerächt wird.« Sie hielt inne. »Irgendwann war das Faß wirklich voll. Eine Spannung lag in der Luft, sage ich Ihnen, da hätte man nur ein Streichholz reinhalten müssen, und die Stadt wäre explodiert, schlimmer noch als beim Ausbruch des Vesuvs!«
Livias Großmutter erzählte, als wäre alles erst gestern geschehen: von der nächtlichen Ausgangssperre und von der Sicherheitszone am Golf, die von einem Tag auf den anderen errichtet werden sollte, von den zweihunderttausend Menschen, die daraufhin ihre Wohnungen räumen mußten und bei anderen Familien einquartiert wurden. »Auch bei uns haben damals zwei Familien gewohnt, aber ich hab glatt vergessen, wie die hießen. Ich werde vergesslich, und das in meinem Alter.« Sie kicherte. Marlen versicherte ihr, daß ihr selbst das alle naselang passierte.
»Erzähl doch mal von den Luftangriffen, nonna «, bat Livia wie ein Kind, das um ein Märchen bettelt, was Marlen an ihre eigene Kindheit erinnerte. »Erzähl doch mal von früher«, hatte sie die Eltern gelöchert, wobei »früher« entweder die zwanziger Jahre oder aber die Zeit ab Ende der vierziger gewesen waren, dazwischen klaffte ein Loch.
»Es gab Luftschutzkeller, cara mia «, entsprach die Großmutter dem Wunsch der Enkelin, »aber nicht für alle. Im Bauen waren sie zwar eifrig, die Faschisten, aber nur über der Erde, zum Vorzeigen und Protzen und Prahlen. Wie viele Menschen durch die Bomben umgekommen sind, auch nach der Befreiung von den Deutschen … einmal ist eine ganze Grotte eingestürzt, in Santa Lucia. Und wir sind in die Keller, tief unter die Erde, wie die Toten.« Zu Marlen gewandt, fuhr sie fort: »Neapel sieht von innen aus wie ein Emmentaler, voller Löcher, wissen Sie, da haben wir uns versteckt. Was wir da unten gemacht haben? Die wenigen Männer, die überhaupt noch da waren, haben Karten gespielt, die Frauen haben gekocht, wir Neapolitaner haben schon immer gern improvisiert. Und wenn die Bomben kamen? Dann hat die Erde vibriert, als würde der Vesuv Feuer speien, ja, das haben wir uns vorgestellt, im Scherz natürlich, daß es nur der Vesuv ist, der sich zu Wort meldet. Der muß bei uns für alles herhalten«, sagte sie und lachte.
Um dann von ihrem Namenstag zu erzählen, Santa Barbara, dem vierten Dezember 1942, wo es an einem einzigen Tag fast tausend Tote gegeben hatte, und wie jemand zu singen begann gegen die Angst, um alle zu beruhigen, vor allem die Kinder. Die Kinder … Sie erinnerte sich daran, daß unter der Erde ein Kind zur Welt gekommen war.
Zur Welt gekommen, dachte Marlen fröstelnd, unter der Erde, wo die Toten leben.
Ohne Arzt, ohne Hebamme. »Nur wir Frauen waren da und haben geholfen, so gut es ging: Wasser kochen, Tücher bereitlegen, das Mädchen auf den Beinen halten, herumspazieren, so tun, als wären wir im Park und die Vögel singen, auf und ab durch die Gänge. An dem Tag nahm der Alarm kein Ende und die Geburt auch nicht, die Zeit ging einfach nicht rum, es wurde ja nicht dunkel und nicht hell, aber als dann ein Mädchen geboren wurde, haben wir es Patrizia genannt, wegen der Heiligen Patrizia, zu der wir gebetet haben, und sie hat uns erhört, denn Mutter und Kind waren gesund und munter, aber ob die Krieger und Politiker und Soldaten über Gebete erreichbar sind, will ich doch bezweifeln, da muß die beste Heilige scheitern.«
Zwei Stunden später stand Marlen satt und müde im überfüllten Bus, der sich seit der Abzweigung Via Salvatore Rosa nur noch meterweise vorwärtsschob. Alles war hoffnungslos verstopft, die Fahrzeuge ineinander verkeilt, selbst auf der Busspur steckten Taxis, Busse und vor allem die Autos fest, deren Besitzer schlauer sein wollten als die anderen. Nur Motorinifahrer schlängelten sich unter lautem Gequäke durch die Lücken.
Sie schloß die Augen und ließ, wenn sonst schon nichts voranging, wenigstens die Gedanken wandern. Marlen kam von dem Bild nicht los. Sie konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen: bei Bombenalarm ein Kind zur Welt zu bringen, in Neapel oder in irgendeiner deutschen Stadt oder anderswo, die Schmerzen des Gebärens, die Entbehrungen im Alltag, Todesangst, und kein Schutz außer brüchigen Räumen und dem eigenen
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