Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Leib.
Livias Großmutter hatte im Verlauf des Mittagessens ihr Leben ausgebreitet wie einen verblichenen Teppich, der sorgfältig gepflegt wurde. Kindheit, Jugend, die Kriegsjahre, die Tage der Befreiung Ende September 1943. »Wir haben mit anderen Frauen zusammen die Männer eingemauert«, hörte Marlen wieder die Stimme der nonna , »ja, richtig eingemauert, im Keller, mit Steinen und Mörtel und Suppenlöffeln und Brettern, und dann einen Schrank davor, als sie sich vor den Deutsehen verstecken mußten, die haben ja alles durchsucht, und als die Kämpfe los gingen und ein Militärauto -Jeep heißen die ja wohl seit den Amerikanern, die auf sich warten ließen – als also ein Militärauto mit Soldaten das Haus durchsuchen wollte, da haben wir es Möbel regnen lassen von ganz oben, es war doch egal, was dabei drauf ging, Hauptsache nicht wir selbst, Stühle, Geschirr, Müll, bis sie schließlich abgezogen sind: das waren unsere kleinen Beiträge zur Befreiung der Stadt.
Wir haben einfach drauflosgekämpft. Ich muß immer an meinen Vater denken, als er mir das Schwimmen beigebracht hat, unten an der Riviera, wo jetzt die Ratten hausen. Er hat gesagt: noch ein Zug und noch ein Zug, dabei ist er immer weiter rückwärts gegangen, aber das habe ich nicht gemerkt, seine Beine waren ja unter Wasser, also bin ich immer weitergeschwommen, viel weiter, als ich mir eigentlich zugetraut hätte – so ähnlich war das damals mit den Deutschen.«
Mein Vater, dachte Marlen bitter, während sie spürte, wie sich jemand an der Hintertasche ihrer Jeans zu schaffen machte und sie kurz mit dem Ellbogen nach hinten stieß, woraufhin die Hand verschwand, mein Vater hält seinen Teppich versteckt und hat statt dessen sein Leben mit Teppichboden ausgelegt. Weich, geräuschlos, modern, sechziger Jahre. Nichts zum Drunterkehren, sondern zum lückenlosen Zudecken, Klebeware, das innenarchitektonische Pendant zum Wiederaufbau. Der Vater sprach ein paar Brocken Italienisch – wie umgekehrt Livias Großvater ein wenig Deutsch – und schwärmte in selbstvergessenen halben Stunden vom Vesuv und vom Golf von Neapel, bis ihn das Nachfragen seiner drei Töchter daran erinnerte, daß damals jener Krieg geherrscht hatte, an den er sich eigentlich nicht mehr erinnern wollte. Im Grundschulalter hatten sie noch gefragt: »Wann bist du denn da gewesen? War Mama auch mit dabei? Wo habt ihr gewohnt? Was habt ihr gegessen? Habt ihr gezeltet? Warum habt ihr uns nicht mitgenommen?« Später wurden die Fragen gezielter, gewiefter: »Wie bist du denn verletzt worden? Warum bist du nicht ausgewandert? Warst du für oder gegen die Nazis? Hast du auch auf jemanden geschossen?« Inzwischen fragten sie nicht mehr. Es kamen nur ausweichende Antworten. War er bei denen gewesen, die geplündert hatten? Bei denen, die willkürlich aufgegriffene Männer erschossen? Bei denen, die Feuer legten? Oder nur dort, wo Anordnungen über Schreibtische geschoben wurden?
»Aber es war doch Krieg…«
»Ja, und…?«
Ja, und…
Sie spürte, wie ihr der Schweiß aus brach, daß sie die Enge nicht mehr ertrug. Sie hatte genug, genug gehört, gesehen, gegessen, getrunken. Genug erinnert. Sie versuchte, sich zur Tür zu drängeln, aber die Leute standen dicht an dicht, so daß niemand sich bewegen konnte. Sie trat jemandem auf den Fuß, sah die Schweißperlen auf der Stirn des Mannes vor ihr, der einen Geruch nach durchgeschwitzten Kleidern und Tabak ausströmte. Der Bus bremste ruckartig, fuhr ebenso ruckartig wieder an, dann kam endlich eine Haltestelle: Die Türen klappten auf, blockierten, klappten wieder auf, blockierten, von draußen versuchten wartende Fahrgäste, sich in den bereits vollen Bus zu zwängen, jemand schrie: fateciscendere, per la madonna! , und in einem Pulk von Menschen quetschte sich auch Marlen aus dem Bus auf die Straße.
Sie befand sich auf der Höhe des Museo Nazionale und hatte noch mindestens eine halbe Stunde Fußweg vor sich. Auch auf dem Bürgersteig ging es nur im Schneckentempo voran. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich dem allgemeinen Gewoge anzupassen, sich den Menschenmassen hinzugeben und alles andere zu vergessen, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, alle Erinnerungen, das ganze vermaledeite Gedächtnis sowie die Enge der Gegenwart auszublenden und nichts weiter zu tun als einen Fuß vor den anderen zu setzen, vielleicht vor einem Schaufenster stehenzubleiben, nach einem Paar Schuhe Ausschau zu halten, sich treiben zu lassen.
6
Marlen
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