Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
sie am achtzehnten April noch da?
Während sie vor dem Plakat stand, spürte sie, wie Blicke über ihren Körper wanderten, gemächlich, genießerisch, in aller Ruhe. Ich bin doch keine Statue, dachte sie und verspürte gleichzeitig, wie zur Bestätigung, ein angenehmes Prickeln auf der Haut. » Buon giorno «, sagte eine männliche Stimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Sie drehte sich um und sah sich einem begehrlichen und zugleich zurückhaltenden Blick gegenüber, den sie schon einmal gesehen hatte. Marlen runzelte die Stirn.
»Salvatore«, half er ihr auf die Sprünge, »der Taxifahrer.«
»Der Retter«, entfuhr es ihr. »Natürlich.« Sie lächelte. »Machen Sie gerade Pause?«
Er schnalzte verneinend mit der Zunge. »Um ehrlich zu sein, ich bin gerade erst aufgestanden. Trinken Sie einen Espresso mit?«
Sie zeigte auf ihr halbvolles Weinglas, sagte, wie zur Entschuldigung: »Es ist schon fast Mittag.«
»Und außerdem sind Sie nicht im Urlaub«, lächelte er.
»Sie sagen es.«
Er setzte sich zu ihr an den Tisch, ließ sich einen doppelten Espresso bringen und erkundigte sich danach, ob sie schon eingetaucht sei ins »wundersame Neapel«.
Sie nickte. »Bis zum Hals. Man kommt an als Kind, das sich noch tüchtig wundern kann, und innerhalb kürzester Zeit wächst man sich zur abgebrühten Erwachsenen aus.«
»Wer ist Ihnen über den Weg gelaufen, ein schwarzer Kater, ein drogensüchtiger Handtaschendieb, eine augenrollende Madonna?«
»Oh, nur eine Tabakfrau, deren Laden aus geräumt wurde, zwei Nonnen, die mich für eine der ihren hielten, eine nonna , die ausgezeichnete Gnocchi kocht, dunkelgrüne Schnürstiefel – ich glaube, das war’s.«
»Neapel ist eben voller Wunder«, feixte er. »Daß wir uns zum Beispiel heute hier begegnen…«
»Die Stadt der Zufälle …«, entgegnete Marlen spöttisch. Ihr Bedarf an Wundern hielt sich seit jeher recht gering, die Affinität zu Männern hingegen nicht. Der Mann war ihr sympathisch. Abwarten, dachte sie, über welchen Fundus an Schmeicheleien, Floskeln, Themen er verfügte, und was er sonst zu bieten hatte. Noch war sie für alles Mögliche offen, die Schutzhaut, die Begegnungen und Eindrücke für sie filterte, hauchdünn. Sie zeigte auf das Plakat an der gegenüberliegenden Wand. »Wissen Sie etwas über dieses unterirdische Neapel?«
Er nickte. »Noch ein kleines Wunder. Eine Stadt unter der Stadt. Ganz Neapel sieht von innen aus wie ein Schweizer Käse. Über der Erde: Häuser, Menschen in Hülle und Fülle, eine Blechlawine. Unter der Oberfläche: ein unterirdisches Labyrinth.« Woher er das wisse? Er lachte auf, sagte, er habe eine Zeit lang in einem Verein mitgemacht, der Führungen durch die unterirdischen Gänge veranstaltet. »Ich wollte eben auch einmal in meinem Leben in den Untergrund gehen …«, fügte er schalkhaft hinzu.
»Ich dachte, Sie seien Taxifahrer…«
»Ich bin vielseitig …« Ein herausforderndes Aufblitzen in den Augen.
Marlen tat so, als habe sie es nicht bemerkt. »Ich habe bisher in keinem einzigen Reiseführer etwas über eine Stadt unter der Stadt gelesen«, insistierte sie.
Es sei auch keine der üblichen Touristenattraktionen, erklärte Salvatore. Und kein heiliger Ort wie die Katakomben von San Gennaro. Eher etwas, was mit dazugehöre. Alle Leute wüßten, daß es die Gänge unter der Erde gebe, dennoch seien die Leute von der LAES nach langer Zeit die ersten gewesen, die sich wirklich dafür interessierten. »Dort gibt es, wenn man so will, nur Löcher, uralte Löcher. Leere. Ein Nichts. Nichts zum Anfassen, nichts zum Vermarkten.«
Marlen war wieder ganz Journalistin und in dieser Eigenschaft auf einer neuen Fährte. Sie stellte Fragen über Fragen, wollte wissen, wie diese unterirdischen Gänge entstanden seien. Salvatore, der Retter und »Experte«, stand ganz zu ihren Diensten. Er erzählte, unter den spanischen Königen sei es verboten gewesen, Baumaterial in die Stadt zu bringen. Deshalb seien die Bewohner in die alten Brunnen hinuntergeklettert, die zu dem unterirdischen Aquädukt führten, das schon seit den Griechen existierte. Von dort unten hatte man den Tuff hochtransportiert, die Erde ans Licht geholt, gegraben und gebaut, Häuser, Kirchen, Paläste, die Stadtmauer, alles aus gelbem Tuff, optimales Baumaterial, leicht, widerstandsfähig, haltbar, wie er betonte. Es wurde immer dichter gebaut und immer höher, jeder Raum wurde genutzt, jeder Zwischenraum gefüllt. »Daher diese engen,
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