Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
waren diese Häuser unbewohnt. Sie wurden durch Gerüste gestützt, die vor sich hin rosteten und dabei Milliarden an öffentlichen Geldern verschlangen, die wiederum in den Geldsäcken einiger weniger Leute verschwanden. Aus der Katastrophe Profit schlagen – ein Teil des Skandals, der gegenwärtig aufgedeckt wurde.
»Das Haus steht noch immer«, fuhr der nonno fort. »Einmal in der Woche fahre ich hin und sehe es mir an und rede mit den Nachbarn. Da ist mein Zuhause. Wer weiß«, er wackelte mit dem Kopf und zwinkerte erneut, »wenn jetzt die Schuldigen gefunden werden, dann können wir vielleicht irgendwann wieder dorthin zurück…«
Die Großmutter kam herein und stellte eine Platte mit Involtini auf den Tisch. Sie hatte den letzten Satz gehört und schüttelte energisch den Kopf. Ihr Mann habe sich hier noch immer nicht eingewöhnt, sagte sie, er trauere der alten, vertrauten Umgehung nach, aber damit erreiche er gar nichts. »Was wir nicht ändern können, können wir eben nicht ändern, sage ich immer«, sagte sie. »Also finden wir uns besser damit ab. So ist es doch.«
Ihr Mann ließ sich von der Realistin an seiner Seite nicht beirren. Er nahm Marlens Hand und zeigte zur Wand. »Sehen Sie den Riß dort? Sehen Sie ihn?« Marlen bejahte. »Was meinen Sie, woher der stammt? Vom Erdbeben?« Er ließ ein meckerndes Lachen hören. »Da gab es diese Häuser hier noch gar nicht. Die sind erst acht Jahre alt. So neu und schon so kaputt. Es ist eine Schande.« Er neigte sich näher zu Marlen und sah e verschwörerisch an. »Wissen Sie, daß am Anfang noch nicht mal die Toiletten funktioniert haben? Die hatten glatt vergessen, die Verbindungsrohre zur Kanalisation einzubauen.« Er lachte lauter. »Unglaublich, was?«
Die Großmutter bestand darauf, derlei Themen nicht beim Essen abzuhandeln und erkundigte sich, ob die Deutschen auch soviel Pasta essen würden. Kartoffeln als Beilage? Kein Brot? Es folgte ein Austausch über die unterschiedliche Zubereitung von Rouladen im besonderen und die Kochkünste von Deutschen und Italienern im allgemeinen.
»Iurstel, krauti, dankeschön, bitteschön, aufwiedersehn, achtung, herr general, beckenbauer…«, zählte der Großvater seine Sprachkünste auf.
»… das Wort ›lager‹ nicht zu vergessen«, ergänzte die Großmutter.
Livia erklärte, der Großvater habe sich nach der Absetzung Mussolinis im Juli 1943 nach Neapel durchgeschlagen, kaum dort angekommen, aber wieder verstecken müssen, weil die Deutschen alle Männer zwischen 18 und 33 einkassieren wollten, um sie als Zwangsarbeiter nach Deutschland ins Arbeitslager zu schicken. Viele Neapolitaner konnten sich bei Verwandten im Hinterland, in Kellern, Grotten, unterirdischen Gängen verbergen.
Das Thema, das Marlen hatte ansprechen wollen, war somit auch ohne ihr Zutun auf dem Tisch. 1943 waren die einst Verbündeten der nördlichen Achse – Italien und Deutschland – zu Feinden geworden, womit sich nicht jeder gleich arrangieren konnte oder wollte. Die neuen Gegner – nun die Deutschen – hockten ja bereits im Haus, thronten mitten auf dem Sofa, die Füße auf dem Tisch. Oberst Scholl hieß der Mann, der von Neapel und Umgebung »Besitz« genommen, den Belagerungszustand erklärt, eine Ausgangssperre verhängt hatte. Krieg gegen die einst Verbündeten. Hitler: Neapel in Schütt und Asche legen. Die nonna war zu der Zeit in Neapel gewesen, mittendrin im Geschehen.
»Keine gute Zeit. Was ich gemacht habe, außer die Kinder versorgen?« nahm sie Marlens Frage auf. »Na, den Alltag organisieren. Die Lebensmittel wurden immer knapper, hundert Gramm Brot pro Kopf, auf Lebensmittelkarten, und unter der Hand haben sie geplündert, was das Zeug hielt, die deutschen Besatzer, diese Hurensöhne, um alles dann wieder teuer an uns weiterzuverkaufen. Schlangen an den Brunnen, Krankenhäuser überfüllt, kein Strom, kein Gas, keine Straßenbahnen, und überall stießen die Deutschen und die Neapolitaner aufeinander, mal ging es friedlich aus, mal blutig. In der Via Santa Brigida zum Beispiel, als ich gerade die Via Roma runtergehe, weil ich gehört hatte, daß in den Quartieri Mehl verkauft wird, da kommt ein Lastwagen mit deutschen Soldaten langgefahren, daran hatten wir uns gewöhnt, aber die sind offenbar nervös, entdecken einen Carabiniere mit Gewehr und wollen ihn verhaften, der haut natürlich ab, kluger Kerl, versteckt sich hinter einer Hausecke und fängt an zu schießen, und plötzlich wird überall aus den
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