Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
vielspurigen Lungomare und lief am Meer entlang zurück. Es tat gut, außer Puste zu sein, tüchtig zu schwitzen, die Muskeln zu spüren und dummdreiste Kommentare notorischer Gaffer, die schon nach zehn Metern ins Hecheln kommen würden, an sich abperlen zu lassen.
Später fuhr sie mit neuen Kräften und einer aus gebesserten Schicht an Gleichmut zu Livias Großeltern – nonna und nonno – die in einem neuen Häuserblock in der Rione Mater Dei wohnten, dessen Verfall seit Marlens letztem Besuch rapide vorangeschritten war. Schwärzliche Spuren von Regenwasser an den Hauswänden, Graffitis, eine kaputte Eingangstür, der Aufzug außer Funktion. Die Großeltern freuten sich immer über Besuch, je mehr Leute, desto besser. Marlen war schon mehrfach bei ihnen zu Gast gewesen. Die nonna war Meisterin in einfacher neapolitanischer Kochkunst. Livia hatte das Treffen nicht zuletzt deswegen arrangiert, weil Marlen die Großmutter über das Jahr 1943 befragen konnte. Diese hatte schon immer gern und ausführlich von früheren Zeiten berichtet. Man mußte sie nur auf ein bestimmtes Thema ansprechen, und schon purzelten die Erinnerungen hervor wie Zwiebeln aus einem umgestürzten Bastkorb. Manchmal tränten die Augen, doch auch das tat gut, und obendrein ergab das eine vorzügliche Sauce, die genovese .
Wie bei jedem Besuch bewunderte Marlen zunächst die Urkunden, die über dem Fernseher hingen. Und der Großvater erläuterte mit stolzer, zittriger Stimme erneut jede einzelne: Einsatz beim Erdbeben in Sizilien, Einsatz während der Choleraepidemie 1973, Auszeichnung für vierzig Dienstjahre Er war bei der Feuerwehr gewesen.
Es klingelte. Livia kam herein, direkt von der Arbeit Auf dem Eßtisch standen bereits Alici Marinate, eine frische Büffelmozzarella, eingelegte Tomaten und Auberginen und ein Korb mit ofenfrischen Sfilatini – Livia mußte Marlens kulinarische Vorlieben ausgeplaudert haben. Nach den Antipasti gab es hausgemachte Gnocchi. Livias Großmutter erkundigte sich nach Marlens Eltern, die sie nicht kannte, nach der Tochter, fragte, wie es in der Schule ging, wie es mit der Liebe stand. Livia fand das indiskret, im Gegensatz zu Marlen, die Livias Großmutter viel lieber mochte als ihre eigene Oma, der sie nicht ums Verrecken irgendwelche Einzelheiten aus ihrem Privatleben erzählt hätte. Sie sagte, sie sei nicht mehr mit Fritz zusammen und erzählte in Auszügen vom letzten Winter.
Danach kamen sie auf die Arbeit zu sprechen. Der nonno – ein hingebungsvoller Zeitungsleser – hatte vor ein paar Tagen in der Zeitung von einem Einbruch in die Kirche Sant’ Antoniello al Port’ Alba gelesen. Dabei waren insgesamt siebenundachtzig – die nonna schaltete sich ein, sie stritten eine Weile um die genaue Anzahl, die jeder von ihnen anders in Erinnerung hatte – liturgische Gegenstände gestohlen worden: Kruzifixe, Hostienteller, Kandelaber, Kelche, Monstranzen, aus Gold, aus Silber. Er war empört. Wie war das nur möglich? Und: »Warum findet ihr solche Verbrecher nicht?«
»Aber Gigino, Livia ist doch nicht bei der Polizei«, tadelte ihn die nonna kopfschüttelnd. »Sie schreibt doch auf, was alles gestohlen wird, hab ich recht, Kind?«
»Aber es ist doch nicht möglich, daß solche Verbrecher nicht gefaßt werden«, insistierte er aufgebracht. »Das gibt es doch nicht: in einer Kirche stehlen! Wo gibt’s denn so was?! Sich unser kulturelles Erbe unter den Nagel reißen und womöglich im Ausland verhökern! «
Der Großvater schimpfte auf sämtliche italienischen Regierungen seit dem Kriegsende und die Großmutter begann, mit lautem Geklapper die Teller einzusammeln und sich jede Hilfe von seiten Marlens zu verbitten, Marlen blieb mit dem nonno im Wohnzimmer zurück.
»Man hat uns mir nichts dir nichts hier einquartiert«, kam er auf sein Lieblingsthema zu sprechen, mit dem er durch eine Art Haßliebe verbunden schien. »Vorher haben wir unten in der Altstadt gewohnt, nicht weit vom Hafen, und da wären wir auch geblieben – wenn nicht das Erdbeben gekommen wäre. Wenn nicht die Risse in den Wänden gewesen wären und es nicht geheißen hätte, alle müßten da raus.«
Er zwinkerte mit den Augen, ein freundliches, vielleicht nervöses Zwinkern, es konnte auch Trauer sein. Marlen war die Geschichte bereits bekannt. Wie viele andere Betroffene mußten auch Livias Großeltern nach dem Erdbeben im November 1980 ihre Wohnung im historischen Zentrum verlassen, weil sie als einsturzgefährdet galt. Seither
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