Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
stehen, richtete den Strahl der Taschenlampe nach oben in den Schacht, dann nach unten. Der Lichtkegel verlor sich im Dunkel. Die Treppe schien endlos in die Tiefe zu führen, bald würden sie auf der anderen Seite der Erdkugel wieder herauskommen.
Auf einer unebenen Stufe stolperte Marlen, fühlte sich von zwei Männerarmen auf gefangen und festgehalten. Reizvoll, die Nähe und sein Körper, doch sie bevorzugte intime Situationen, die nicht aus Not oder sonstiger Abhängigkeit erwuchsen, schob ihn sanft, aber entschieden zurück. Noch nicht, dachte sie. Später. Schweigend stiegen sie weiter die Stufen nach unten. Dann waren sie endlich angekommen. Sie mußten sich mindestens dreißig Meter unterhalb der Erdoberfläche befinden.
»Hier entlang.« Salvatore leuchtete, Marlen folgte ihm in einen engen Korridor, konnte mit ausgestreckter Hand Decke und Wände berühren: Tuff, wie er gesagt hatte. An einer Art Tunnelkreuzung bogen sie rechts um die Ecke und gelangten in einen Raum, der ungefähr so groß war wie eine durchschnittliche neapolitanische Trattoria. Der Lichtkegel von Salvatores Taschenlampe erfaßte einen Isolator, an dem lose ein paar Drähte baumelten.
»Das hier war im Krieg einer der Schutzräume für die Menschen, die oben in den Gassen wohnten.« Das Licht der starken Taschenlampe schnellte wie die Lichtorgel in einer Diskothek durch den Raum, während Salvatore die Erläuterungen mit Gesten unterstrich. »Die Stromversorgung aus den vierziger Jahren.«
Marlen tappte hinter ihm her, von einem engen Tunnel in den nächsten. Manchmal mußten sie sich bücken, zwei Glühwürmchen in den Eingeweiden der Stadt. Als ihr die Wände gerade allzu eng auf den Leib rücken wollten, öffnete sich vor ihnen ein zweiter Raum, sehr viel größer und höher als der erste. Marlens Blick tastete sich mit Hilfe der Taschenlampe die Wände entlang. Vor ihr tauchte im Lichtkegel etwas auf, das aussah wie ein riesiger Penis. Oder ein vorbeischwimmender exotischer Fisch. Nur daß die Luftblasen vor seinem Maul nicht nach oben stiegen, sondern wie Spucke zu Boden tropften. Oder wie Sperma, dachte Marlen, je nachdem. Verräterische Phantasie.
Sie trat einen Schritt zurück, leuchtete weiter nach rechts, erkannte die Zeichnung jetzt deutlicher: Es war weder ein Fisch noch ein Penis, sondern ein Flugzeug – ein Bomber, auf die Wand projiziert, im Flug erstarrt. Die fallenden Bomben sahen aus wie Tränen. Tränen, Bomben, Luftblasen, Spermatropfen – alles schien hier eng aneinandergerückt und zusammengehörig.
Salvatore stand hinter ihr, sie hörte seinen Atem, schluckte, besah sich, ohne einen Mucks von sich zu geben, den ganzen Raum. Es gab Strichlisten wie in den Gefängniszellen alter amerikanischer Filme, wie viele Tage noch, wie viele Nächte, wie lange hatten die Menschen hier unten gehockt, während oben die Bomben fielen – dazu Strichmännchen und Strichweibchen in ein- und zweideutigen Stellungen. Namen und Herzen drumherum, Ciro e Concetta, Armando ama Anna . Ein Name über einem Kreuz, ein Name unter einem Stern.
»Während der Bombenangriffe«, erklärte Salvatore, mit dem Marlen inzwischen per Du war, »ging das Leben unter der Erde weiter – oder auch nicht. Hier wurde gekocht, gegessen, geschlafen, geliebt, geheiratet, gestorben. Sieh mal hier, zwei Ringe.«
Marlen nickte und dachte an die unterirdische Geburt, der Livias Großmutter beigewohnt hatte. »Sind das auch Bomben?« Sie deutete auf Punkte in Tropfen-, Tränen-, Spermaform, zu einem Dreieck formiert, das mit der einen Ecke nach unten zeigte.
»Deutsche Bomben«, präzisierte Salvatore. »Hier steht auch das Datum: 4. August 1943, 14.32 Uhr.«
»Dann waren es keine deutschen Bomber«, sagte Marlen, »das müssen schon die Alliierten gewesen sein, ab Juli 1943 haben sie die italienischen Städte bombardiert, um die Deutschen zu vertreiben, und die Deutschen hätten keine Stadt bombardiert, die sie bereits besetzt hielten. Aber davon mal abgesehen, Bomben sind Bomben.«
»Mal was drüber geschrieben, was?« grinste Salvatore.
»Ein Teil der deutschen Geschichte und damit auch meiner«, erwiderte Marlen ungerührt. »Teil meiner Arbeit. Außerdem habe ich schon als Kind in Bunkern und Ruinengrundstücken gestöbert.«
»Keine besonders idyllischen Orte«, sagte Salvatore.
»Es ist auch keine besonders idyllische Geschichte«, gab Marlen zurück und leuchtete weiter den Raum ab. »Und was heißt das hier: Assuria soreta ?«
»Das ist
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