Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
sonnenlosen Gassen, diese Fülle an Vorbauten, Anbauten, Balkonen, Hinterhöfen, Treppen.«
Während er erzählte, ließ Salvatore den Blick über Marlens Körper gleiten, in Mäandern, als würde er seinen Text dort ablesen. Marlen war fasziniert, nahm aber auch die Untertöne wahr, das Prickeln auf ihrer Haut, das ebensogut von den unterirdischen Gängen in ihrer Vorstellung stammen konnte wie von der Ausstrahlung des Mannes, der ihr gegenüber saß. Er sieht mich an wie ein Don Juan, der eine Touristin auf reißen will, fuhr ihr durch den Sinn, und wie ein Junge, der zum ersten Mal eine nackte Frau begehrt, dachte sie weiter, wie einer, der es lang nicht mehr gemacht hat, wie einer, der weiß, wie es gut sein könnte, wie einer, der sich nicht festlegen mag, wie einer, der etwas verbirgt, das man besser im verborgenen läßt – so einer, ungefähr. Das Alarmglöckchen in ihrem Hinterkopf läutete, wie so oft, wenn es um männliche Wesen ging, zu verhalten und leise.
Salvatore ließ seinen Blick auf ihrer Brust verweilen. »Man könnte fast sagen, die Neapolitaner haben sich den Boden eigenhändig unter den Füßen weggezogen, damit die Stadt wachsen kann«, schloß er.
»Eine der Grundweisheiten des Lebens …«
»Wenn Sie Lust haben, könnte ich sie Ihnen zeigen«, sagte er. »Die Stadt unter der Stadt, meine ich.«
Marlen hatte bisher nichts Besonderes vor. Nichts Anstrengendes jedenfalls, nichts Aufregendes. Aber was war schon ein Bummel durch die Gassen gegen einen Ausflug in die Unterwelt? Mit Sicherheit würde ein spannender Artikel herausspringen. Wenigstens bietet er keine falschen Perserteppiche an, dachte sie dann, und keinen Ausflug nach Pompej mit nächtlicher Vesuvbesteigung, dieser Taxifahrer mit dem ironischen und zugleich verletzlichen Zug um die Augen. Sie brauchte ihn nicht erst mit Blicken zu verschlingen, um zu spüren, daß sich etwas zwischen ihnen tat. Ihre Neugier jedenfalls war geweckt. In jedem Sinne.
»Mich interessiert ausschließlich das unterirdische Neapel«, sagte sie, wohl wissend, daß das nicht stimmte, wohl wissend, daß auch er wußte, wie die Dinge lagen.
»Und mich die wundersamen Dinge«, erwiderte er und sah ihr jetzt direkt in die Augen.
7
Die Gassen waren wie immer am frühen Nachmittag fast menschenleer. Auf einem Stuhl saß eine ältere Frau und nickte ihnen aus halbgeschlossenen Augen zu, vielleicht machte sie einen kurzen Mittagsschlaf. Zwischen den Marktständen auf dem Platz vor einer zerfallenen Kirche liefen Hühner ziellos hin und her. Salvatore machte Marlen auf Details aufmerksam, die sie im täglichen Gehupe und Gedränge weder suchen noch entdecken würde – das Stehenbleiben in diesen engen und bevölkerten Gassen wies sie unbarmherzig als Touristin aus, was sie gern vermied. Da blieb vieles unbemerkt. Zum Beispiel der rostige Türklopfer in Gestalt eines Tintenfischs, den Salvatore ihr zeigte, ein Wahlkampfplakat aus den siebziger Jahren, das unter einer Schicht anderer Plakate zum Vorschein kam: »Zwei halbe Arme.« Es dauerte eine Weile, bis Marlen sah, was er meinte: aus einem Fenster hing der untere Teil eines Männerarms mit brennender Zigarette zwischen den Fingern, und gleich daneben war die versteinerte Entsprechung zu erkennen, ein Arm ohne Hand, vielleicht Teil eines Halbgottes, Überbleibsel vom Portalschmuck des Palazzo.
Ungefähr nach einer Viertelstunde betraten sie einen tauben- verschissenen Innenhof, in dem flächendeckend Autos parkten.
»Da sind wir.« Salvatore zog ein Schlüsselbund aus der Hosentasche und machte sich an einer unscheinbaren Holztür in der hinteren Ecke des Hofs zu schaffen. Marlen hatte keinen blassen Schimmer mehr, wo sie sich befanden: in irgendeinem Häusergeviert irgendwo im Gewirr der Gassen in den Quartieri Spagnoli.
» Chi è ?« ertönte von hoch oben eine schrille Stimme. »Wer ist da?«
Salvatore zog Marlen mit sich hinter die Holztür, die er dann sofort schloß. Das Gezeter erstarb. Marlen stieß mit dem Fuß gegen etwas Blechernes, das mit Getöse eine Treppe hinunterschepperte, dem Geräusch nach ein Putzeimer. Salvatore drückte ihr eine Taschenlampe in die Hand. Sie leuchteten sich Stufe für Stufe den Weg nach unten. Es war feucht. Marlen begann zu schwitzen. Sie spürte bereits jetzt jede einzelne Stufe in den Oberschenkeln. Bestes Training gegen Muskelkater. Je vier mal fünf Stufen im Karree, machte zwanzig Stufen, nur die Anzahl der Karrees hatte sie nicht mitgezählt. Sie blieb
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