Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
altes Neapolitanisch und bedeutet soviel wie: Ich mach’s mit deiner Schwester – mi faccio tua sorella .«
Sie zog es vor, nichts darauf zu erwidern. Weiter ging’s, durch stollenartige Tunnel, die mal enger, mal breiter wurden, Stufen hoch, Stufen hinunter. Marlen wollte immer wieder wissen, wo sie sich gerade befanden. Salvatore überlegte eine Weile, sagte dann: »Unter der Ponte di Chiaia«, oder: »An der Ecke von Vico A. und Via B.« Sie kletterten über Geröll: Reste eines vor Jahren eingestürzten Brunnens. Es machte Spaß, es war ein wenig unheimlich. Um sie herum Dunkelheit, unbekannte Gänge.
Salvatore erzählte, daß er in diesem Viertel aufgewachsen und als Junge tagelang unter der Erde herumgestreunt sei. »Mein Wald«, sagte er. »Oder besser gesagt: meine Ruinengrundstücke. Tagelang habe ich die Gegend erkundet, wochenlang, alles auf einer Geheimkarte verzeichnet, Namen erfunden für die Stollen, Gänge, Schächte, Räume.« Er lachte vergnügt in sich hinein wie jemand, der in seiner Erinnerung kramt und dabei unerwartet blinkende Münzen findet. »Alles mögliche hab ich damals nach unten geschleppt: Wolldecken, Kerzen, Mickymaushefte, Rotwein, das erste Kofferradio, Bücher, Briefe, den Diwan einer verstorbenen Großtante, Lebensmittel. Meine Mutter hat sich gewundert, wohin die Vorräte verschwanden. Wie Robinson Crusoe, nur etwas komfortabler. Einen geheimeren Ort hätte es gar nicht geben können. Während die anderen in der Villa Comunale oder im Auto mit den Mädchen rummachen mußten, hatte ich einen Raum ganz für mich allein.«
»Und die Mädchen sind mitgegangen?« fragte Marlen skeptisch.
»Du gehst ja auch mit.«
»Heute«, sagte sie, »aber damals …«
Sie dachte an die Zeit, als sie ein Mädchen gewesen war. Sie sah sich allein in den Keller gehen, um das Fahrrad herauszuholen, ein endloser, tiefdunkler Gang mit Holzverschlägen zu beiden Seiten, der sich unter dem ganzen Wohnblock erstreckte und mehrere Zugänge hatte. Zum Glück war ihr Wohnhaus das letzte in der Reihe, doch manchmal raschelte es, hörte sie Schritte, manchmal ging irgendwo weiter vorn das Licht an oder aus, dann fuhr das Mädchen Marlen zusammen und raste die Kellertreppen nach oben und verzichtete aufs Fahrrad- fahren. Zum Glück war diese panische Angst irgendwo in ihrer stacheligen Jugend hängengeblieben, und bald darauf war die Familie umgezogen in ein Reihenhaus, wo nur die eigenen Kellergeister hausten.
»Theoretisch könnten wir hier immer weitergehen, bis zum Meer, bis nach Posillipo«, sagte Salvatore. »Allerdings sind viele Gänge sehr eng oder unbenutzbar, stehen unter Wasser, sind zugemauert, eingestürzt.«
»Gibt es hier keine Ratten?«
Salvatore beruhigte sie, Ratten seien ihm bisher hier unten noch nie über den Weg gelaufen, und wenn, dann würden sie sofort abhauen, zu fressen gäbe es genug.
Marlen wollte wissen, wieso diese Gänge nicht genutzt werden. Sie dachte an Lagerräume oder illegale Werkstätten, ideale geheime Orte für alles, was im verborgenen zu bleiben hatte.
»Und wer soll das alles runter- und wieder raufschleppen?«
»Mit einer Seilwinde?« schlug Marlen vor. »Oder mit einem kleinen Aufzug? Wenn es von den meisten Palazzi aus einen Zugang zum unterirdischen Neapel gibt, wie auf dem Plakat, das bei Gambrinus hängt?«
»Keine schlechte Idee.«
»Vielleicht wären die Temperaturen für Wein nicht schlecht«, überlegte Marlen weiter. »Gute Sorten, die einige Jährchen hier unten bleiben, bevor sie weiterverkauft werden.«
»Zu warm«, sagte Salvatore. »In diesem Teil der unterirdischen Gänge jedenfalls. Kontinuierliche siebzehn Grad, im Sommer wie im Winter.«
»Aber andere Dinge könnte man doch hier unten lagern.« Marlen war für ihre Beharrlichkeit bekannt.
»Theoretisch schon. Wurde früher auch so gemacht. Aber man kommt der Unterwelt ein Stückchen näher, die Leute sind abergläubisch, denk an San Gennaro.«
»Die vielen Wunder…«
Marlen hatte mittlerweile jegliche Orientierung verloren. Ob Salvatore den Weg zurück finden würde? Vielleicht hätten sie einen roten Faden spannen sollen, ihr kam die Geschichte von Ariadne, Theseus, dem Minotaurus in den Sinn, dann das Märchen von Hänsel und Gretel und die rettenden Brotkrumen. Im wirklichen Leben ging es allerdings weniger märchenhaft zu. Den Heimvorteil hatte eindeutig Salvatore. Wenn sie es sich genau überlegte, war sie ihm völlig ausgeliefert bei diesem Spaziergang durch den Bauch
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