Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
so – was geht dich das an – pfui Teufel – sie in eine Situation zu locken, der sie sich nicht entziehen kann – wärst du eben nicht mitgegangen – eine ganz private Führung, zahlbar in sexuellen Zuckungen – Scheiße, wie dumm ich war – hör auf zu spinnen, du bist doch auf ihn scharf – trau keinem Süditaliener – Anfängerin! – ein Gewitter böser Gedanken, sie war schlichtweg enttäuscht, alle Lust verraucht.
»Ich will nach oben«, sagte sie mit eisiger Stimme und blieb stehen.
Doch Salvatore, der ebenfalls stehengeblieben war, reagierte nicht.
»Hast du nicht kapiert? Ich will hier raus. Was ist? Was ist los?«
Er schien sie überhaupt nicht zu hören. Keine Reaktion. Dort, wo der Gang sich zu einem Raum erweiterte – zu dieser pubertären Höhle, dachte sie – stand Salvatore vor ihr wie ein Telamon, ganz Neapel geschultert, sprachlos und versteinert. Er tat einen Schritt zurück, trat ihr dabei auf den Fuß, tastete nach ihrem Bauch, ihrer Hand. Seine Hand war schweißnaß. Zitterte.
Ruhig Blut, Marlen, sagte sie sich, so sehr kannst du dich nicht getäuscht haben, pervers ist er sicherlich nicht, was also dann? Er hat Angst. Angst? Wovor?
Da Salvatore keinen Mucks von sich gab, atmete sie einmal tief durch und schob ihn dann einfach zur Seite.
Der Raum, der vor ihr lag, war zweifelsohne Salvatores Teenagerhöhle. Zwei umgedrehte Holzkisten, darauf eine dicke, halb abgebrannte Kerze, ein Stapel Hefte, Streichhölzer, eine leere Weinflasche, Und da war auch der Diwan, den Salvatore erwähnt hatte. Fast hätte sie laut losgelacht: zu spät gekommen, der Retter, ich hab’s ja gleich gesagt, vorhin oder gar nicht, da hast du deine Schuld.
Der Diwan war nämlich bereits belegt von einem anderen Mann, der schlief. Marlen sah sich amüsiert nach Salvatore um, der hinter ihr am Eingang des Raumes stand und sich mit keinem Laut zum Geschehen äußerte. Er kam ihr blaß vor, lag es am Schein der Taschenlampe oder an dem Fremden auf dem Diwan? Marlen ging auf Zehenspitzen ein Stück näher heran. Der Fremde sah aus wie viele Süditaliener – dunkle Schatten von schnell nachwachsenden Bartstoppeln, dunkle, kurze Haare, mittelgroß, Jeans – mit einem gravierenden Unterschied: auf der Brust des Mannes, die sich weder hob noch senkte, prangte direkt am Herz ein roter Fleck.
»Er ist tot«, vernahm sie die Stimme Salvatores.
8
Als Livia nach Hause kam und die Deckenlampe im dunklen Zimmer anschaltete, saß Marlen im Sessel und hielt schützend die Hand vor die Augen wie ein hilfloses Kind, das sich vor Schlägen retten will. Sie hatte den Rest des Nachmittags so verbracht, mit angezogenen Beinen ins Nichts gestarrt, das irgendwo zwischen Wand und Fenster begann und ständig andere Auswüchse annahm.
Es kam ihr vor, als sei der Mann auf dem Diwan der erste Tote ihres Lebens. Das stimmte nicht ganz, denn einmal – sie war damals ungefähr zwölf gewesen – hatten Rettungsschwimmer einen Ertrunkenen aus der Ostsee gefischt. Die anderen beiden Toten in ihrem Leben waren als solche unsichtbar geblieben: die Großmutter, friedlich im Bett »eingeschlafen«, wie man ihr, der Fünfjährigen, erzählt hatte, und die sie dann mit Kinderaugen in einem hölzernen Sarg in der Erde versinken sah; und vor ein paar Jahren ein Freund, der an Aids gestorben war, als sie gerade mit Luzie und Fritz im Urlaub in Irland weilte. Menschen, die sie gekannt und geliebt hatte, waren verschwunden und hatten eine Lücke hinterlassen, die im Lauf der Zeit kleiner wurde, bis sie zuwuchs und eine unscheinbare Narbe hinterließ. Einen Toten jedoch, den sie überhaupt nicht kannte und der offenbar eines gewaltsamen Todes gestorben war, hatte Marlen noch nie erblickt, auch nicht in ihrer Eigenschaft als Journalistin.
Der Schock wirkte noch immer nach. Sie konnte nicht mehr sagen, wie sie nach der unheimlichen Entdeckung nach Hause gelangt war. Sie hatte sich in den Sessel fallen lassen und die Erlebnisse wieder und wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen lassen – von der zufälligen Begegnung mit Salvatore im Gambrinus bis zum hastigen Abschied in irgendeiner Gasse in den Quartieri. Sie hatte drei oder vier Grappa getrunken, über das Sterben sinniert und beobachtet, wie sich das Tageslicht immer mehr aus den Farben der Dinge herauszog, bis sie schließlich – auch was ihre Gedanken anbelangte – im Dunkeln saß. Im dunkeln getappt, dachte sie, als Livia zur Tür hereinkam. Oder im Dunkeln ertappt? Jedenfalls schien
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