Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Livia aus einer völlig anderen Welt zu kommen, in der es keine Toten und keine höhlensüchtigen Liebhaber gab, sondern lebenslustige Kolleginnen, abhanden gekommene Kruzifixe, händeringende Pfarrer.
»Bitte, mach kein Licht. Hol dir was zu trinken. Setz dich zu mir.«
Drei Imperative in kläglichem Ton, der Livia aufhorchen ließ.
Sie hatte heute stundenlang in den Computer gestarrt, der aus einem ihr unerfindlichen Grund wieder einmal Material verschluckt hatte – die Zahlenangaben der ersten drei Monate dieses Jahres sowie weitere drei Dateien. Auch die Sicherungskopien, die sie in ihrem Schreibtisch aufzubewahren pflegte, waren in dem üblichen Durcheinander aus Papier und Büromaterial verschwunden. Das passierte nun schon zum dritten Mal. Livia kannte sich mit Computern kaum aus, hatte geflucht, diesmal selbst alle möglichen Dateien durchsucht, auch auf Rosarias Computer, und sich schließlich wieder an Pepe wenden müssen, einen Kollegen aus der Finanzabteilung, der für seine Arroganz, aber auch für sein Computerfachwissen bekannt war und ihr schon beim ersten Mal – fachmännisch und ohne mit der Augenbraue zu zucken – ein Antivirusprogramm installiert hatte. Sie erinnerte sich gut an ihr erstes Aufeinandertreffen. Pepe hatte ihr empfohlen, künftig von allen Daten Kopien anzufertigen. »Habe ich doch«, hatte sie stolz entgegnet und auf die Papierstapel gedeutet, die sich im geöffneten Stahlschrank stapelten. »Ich meine doch nicht solche Kopien«, hatte Pepe konsterniert geantwortet und sich offensichtlich gefragt, ob Livia aus einer anderen Zeitschleife stamme. »Ich meine Kopien auf Diskette.«
Auch diesmal war Pepe fündig geworden. Sie hatte Gluck, zwei der drei Dateien auf ihrer Festplatte waren noch nicht überschrieben worden, die dritte mußte sie anhand des Aktenmaterials rekonstruieren. Eine Heidenarbeit, völlig idiotisch, Rosaria war ihr zu Hilfe gekommen und saß vermutlich noch immer im Büro. Hoffentlich dachte sie daran, Kopien auf Diskette zu ziehen. Livia nahm sich vor, künftig alle Kopien doppelt anzufertigen und eine davon mit nach Hause zu nehmen.
In dieser ausgelaugten und entsprechend aggressiven Stimmung tat Livia sich schwer damit, in die Halbdämmeratmosphäre Marlens einzutauchen. »Also, was ist passiert?« sagte sie einen Deut zu polterig. »Schieß los.«
Marlen zuckte zusammen: »Losschießen« würde sie schon gar nicht. Worte waren doch sehr empfindliche Gebilde, aber noch empfindlicher waren die Wesen, die mit Worten zu tun hatten.
»Nun erzähl schon.« Zwei Nuancen weicher.
Und Marlen erzählte, zunächst stockend, wie und wo sie diesen Taxifahrer namens Salvatore kennengelernt und wiedergetroffen und weshalb sie daraufhin die Pläne für den Nachmittag über den Haufen geworfen hatte, erzählte, nun schon fließender, vom Abstieg in die Erde und von der Atmosphäre in den unterirdischen Räumen und Gängen, auch von den Graffitis und dem Müll und schließlich, beinahe außer Atem, von der Jugendhöhle Salvatores und dem Diwan und dem toten Mann. Mit jedem Wort näherte sie sich Stück für Stück dem Abgrund an Gefühlen, die sich im Verlauf des Nachmittags angesammelt hatten – dem Sog aus Angst, Wut, Neugier, Lust, Aufregung, Ohnmacht, Ratlosigkeit.
Livia verteilte Grappa, hielt Marlen das Glas unter die Nase und schwieg, auch wenn sie sich, je mehr Marlen erzählte, immer schwerer tat, die eigene Aufregung und Neugier zu zügeln und die Freundin nicht nach jedem dritten Wort zu unterbrechen und nachzufragen. Sie wollte wissen, wie der Mann aussah. Nein, nicht der Taxifahrer, doch, der auch, vor allem der Tote. Haarfarbe, Größe, Statur, Alter, Kleidung, sonstige Merkmale.
Was den Toten betraf, mußte Marlen passen. Es war ihr ergangen wie den meisten zufälligen Zeugen: ob das Fluchtfahrzeug ein roter Opel, ein blauer Ford oder ein beiger Renault war, ging in der Aufregung völlig unter. »Süditalienischer Durchschnitt«, sagte sie, als wäre der Mann damit bereits identifiziert. »Nicht besonders groß, eher untersetzt, nicht besonders fett, nicht besonders mager, nicht besonders jung, nicht besonders alt. Mit Sicherheit hatte er keine roten Haare und trug keinen Vollbart und keine Brille, daran hätte ich mich erinnert. Aber sonst – frag mich was Leichteres, ich hab kein Auge für Schnittmusterdetails. Er trug Jeans, ein Hemd. Vielleicht, wenn du mir ein Foto zeigen würdest…«
Sie wurde aufgefordert, wenigstens den Taxifahrer zu
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