Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
gesteckt, Rentner üb erfahren und kilometerweit mitgeschleift, Mann mit Nagelfeile erstochen und so weiter. Das tägliche Grauen aneinander, es herrschte tatsächlich.
Natürlich war längst klar, daß sie sich im weitläufigen Tal der Spekulationen befanden, solange ihnen über diesen unbekannten Toten nichts Näheres bekannt war. Als Livia die letzten Tropfen Grappa in die Gläser laufen ließ, schlug Marlen gähnend vor, sie sollten jetzt endlich die Polizei einschalten. Hätte sie in Deutschland eine Leiche entdeckt, wäre sie längst zur Polizei gegangen. Wie in jeder Krimiserie: Toter entdeckt, Heidenschreck, 110, Kommissar XY nimmt die Ermittlungen auf, ein freundlicher, älterer Herr irgendwo zwischen Erik Ode und Horst Tappert. In Amerika wäre selbstredend das Miami-Vice-Duo angetreten.
Und in Neapel? Livia war in einem Vorort Neapels aufgewachsen und kannte die Bandbreite von halblegalen Tricks, mit deren Hilfe man in Neapel leichter durchs Jahr kam, lebte, überlebte – die Polizei bewährte sich weder im Straßenverkehr noch in der Aufklärung kleinerer oder größerer Überfälle. Sowohl Ordnungshüter als auch der Glaube an Recht und Gesetz genossen einen zweifelhaften Ruf. Das begann beim Verkehrspolizisten, der statt auf der Straße in der Bar stand, und endete bei schlimmster Korruption in den obersten Rängen der Polizeibehörde und Kommunalpolitiker. Das Verteilen von Knöllchen für Falschparker war sinnlos, weil die Kosten, die anfielen, um die Strafgebühren mit zig Mahnungen auch wirklich einzutreiben, sehr viel höher lagen als der Ertrag. Und selbst wenn jemand hinter Gitter kam, mahlten die Mühlen der Justiz so langsam, daß das Verfahren verjährte oder – in Italien oft genug der Fall – eine neue Regierung ins Amt trat und eine kleine Amnestie erließ.
»Wenn du das meldest und sie den Toten finden, wirst du sofort stundenlang ausgequetscht, in diesem Zustand, und ich gleich dazu, warum du hier bist und woher du diesen Salvatore kennst und wieso ihr überhaupt ins unterirdische Neapel runtergestiegen seid. Und dann rücken sie womöglich ihm auf den Pelz, und vielleicht will er aus irgendeinem Grund nichts mit der Polizei zu tun haben. Ohne daß das viel heißen muß.« Sie zuckte die Schultern. »Du weißt genau, daß niemand gern in eine Sache hineingezogen wird, mit der er nichts zu tun hat, weder bei uns, noch bei euch. Und du kennst die Stadt, du weißt, was hier läuft und was nicht: ognuno si fa i cazzi suoi …«
»Das ist es«, rief Marlen. »Genau das hat dieser Salvatore auch gesagt: Mi faccio i cazzi miei . Und dann ist er auf und davon.«
»Und wenn wir beide selber noch mal nachsehen, ich meine, unter der Erde, in dieser Höhle?« schlug Livia vor. »Vielleicht finden wir etwas über diesen Toten heraus.«
»Noch mal da runter? Bist du verrückt?« Marlen starrte die Freundin entgeistert an. »Ohne mich. Ich hab fürs erste genug von unterirdischen Abenteuern.«
Und als wäre damit alles gesagt, rollte sie sich auf dem Sofa zusammen. Livias Vorschlag war schlichtweg eine Drehung zuviel, es drehte sich ihr sowieso schon alles vor Augen, das konnte am Alkohol liegen oder an den Treppen, die sie in Gedanken immer wieder hinaufhastete, immer fünf Stufen im Karree, es war alles zuviel, zu viele Bilder, erlebte und erdachte. Morgen war ein neuer Tag, und der Schlaf würde alles wieder ins Lot bringen.
9
Sie hatte traumlos geschlafen und war erst auf gestanden, als Livia schon längst hinter ihrem Schreibtisch hockte und unter dicken Augenlidern in den Computer starrte. Auch Marlen spürte die Nachwirkungen des Grappa. Sie fühlte sich körperlich, gelinde gesagt, miserabel, doch kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um das unterirdische Neapel, so daß es keine Lösung war, den Kopf unter die Decke zu stecken und tote Frau zu spielen. Aus Erfahrung brachte es mehr, ein bißchen zu joggen, den Körper auf Touren zu bringen, quälende Gedanken auszuschwitzen und den Rest zu ordnen. Meistens jedenfalls funktionierte es.
Sie setzte sich in Livias klapprigen Fiat, den jeder noch so großzügige deutsche Polizist längst aus dem Verkehr gezogen hätte, und zuckelte in gemächlichem Tempo die Via Roma immer geradeaus, die auf dem Stadtplan Via Toledo hieß und nach einiger Zeit in den Corso Amedeo di Savoia Duca d’Aosta überging. Sie fand einen Parkplatz nicht weit vom Eingangstor zum Park von Capodimonte, betrat die weitläufige Grünanlage und legte los.
Die ersten
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