Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Verordnung mit dem Arbeitsdienst, alle zwischen achtzehn und dreiunddreißig, da fiel ich auch drunter, aber kaum jemand hat sich gemeldet.« Er kicherte, das Kichern ging in bellendes Husten über, das er mit einem weiteren Schluck Wein hinunterspülte. »Von dreißigtausend nur hundertfünfzig. Darin sind wir gut. Im Verschwinden. Sind einfach nicht hingegangen.« Er selbst hatte, wie Marlen sich zusammenreimte, gemeinsam mit anderen Männern durch Keller und die verwinkelten Gassen fliehen können. »Da paßten keine Militärautos durch, wir haben uns versteckt, vier Tage lang, in einem Abwassergraben, und als ich nach Hause kam, ging der Aufstand los.«
Der alte Mann registrierte, daß die Weinflasche nun leer war. »Ja, so war das«, brummte er, stand dann leicht schwankend auf, neigte den Kopf und machte eine weite, ehrerbietige Geste mit dem Arm. »Mein Herr, meine Dame, bedanke mich fürs Zuhören.« Und schlurfte davon.
»Er kommt regelmäßig hierher, läßt sich aushalten, läßt seine Geschichte ab und geht dann wieder«, sagte Giorgio. »Als Sie sagten, daß Sie über die quattro giornate schreiben, dachte ich gleich, es könnte Sie interessieren.«
Marlen mußte sich eingestehen, daß sie sich in Giorgio getäuscht hatte.
Signora Anna räumte höchstpersönlich den Tisch ab. »Der Ärmste hat diese fixe Idee im Kopf«, sagte sie kopfschüttelnd. »Hoffentlich hat er Sie nicht belästigt. Es ist immer dasselbe. Zu Hause können sie es schon nicht mehr hören. Die einen sagen, seine erste Frau sei von den Deutschen, na Sie wissen schon, die anderen sagen, sein ältester Sohn sei von einem Panzer, ist ja auch egal, es wird schon irgendwas sein, das sich bei ihm im Kopf eingenistet hat, poveraccio , der Ärmste. Seine jetzige Frau, die dritte, schickt ihn jeden Freitag hierher, poveraccia .«
25
Bisher hatte niemand das Haus betreten. Marlen war gerade erst zwanzig Minuten auf dem Posten. Sie trug eine Sonnenbrille und ging auf der anderen Straßenseite vor einem städtischen Kindergarten auf und ab, als wartende Mutter getarnt. Alle fünf Minuten hielten irgendwelche Kleinwagen mit Müttern, die ihre Kinder abholten. Die Frage war, wie lange sich das Kinderabholen hinziehen würde. Und ob die Angabe, »er komme am Nachmittag vorbei«, annähernd den gleichen Zeitraum abdecken würde. Er – das war besagter Freund von Salvatore, der die Post und die gebügelte Wäsche abholen sollte.
Diese Mütter, dachte Marlen und beobachtete, wie eine junge Mutter ihren Sohn im Auto auf den Vordersitz verfrachtete, damit sie ihn noch besser unter Kontrolle hatte. Immer besorgt. Können sich nie raushalten. Sie erinnerte sich gut an die offenen und verdeckten Kämpfe, die sie früher mit Luzie ausgefochten hatte – oder besser: Luzie mit ihr. Auch sie, Marlen, kannte diesen unabwendbaren Drang, immer einzugreifen, vorzudenken, dabeisein zu wollen. Sie spürte noch, wie es ihr in den Fingern gejuckt hatte, wie sie hatte lernen müssen, sich zurückzuhalten. Es zu ertragen, nicht immer darüber informiert zu sein, was im Kindergarten, was in der Schule lief. Was Luzie träumte. Was sie mit den Freunden und Freundinnen spielte. Ein Verzicht auf Wissen, der ein Verzicht auf Macht war – und schmerzhaft. Jetzt gingen Luzie und sie ihre eigenen Wege. Einmal Mutter, immer Mutter. Wer hatte das gesagt? Ein Anflug von Wehmut packte Marlen, als sie die Vier-, Fünf-, Sechsjährigen aus dem Kindergarten kommen sah. Als Luzie so klein war… Für solche Momente gab es zum Glück Fotoalben, Tuschbilder aus Kinderhand, selbstgebastelte Osternester. Marlen reckte sich. Der Anflug von Sentimentalität war vorbei. Sie war froh, daß Luzie und sie jetzt weitgehend unabhängig voneinander waren. Keine Vierbeinerkonstruktion mehr, Schluß mit der Mutterkuh.
Nach dem Mittagessen war Giorgio losgehastet, zu einem Termin, der dringender war als der Espresso. Sie hatten verabredet, einander unter Kollegen auf dem laufenden zu halten. Das Gespräch mit Giorgio machte sie unruhig. Umberto und Salvatore und dieser Dante hatten also zusammen einen lukrativen Handel mit Mittelamerikazeug betrieben. Sehr plausibel der Gedanke, daß auch Drogen mit im Spiel gewesen waren. Aber das war lange her. Keiner der drei war je wegen eines Drogendelikts verdächtigt oder angeklagt worden, wie Giorgio dank seiner offenbar guten Polizeikontakte herausgefunden hatte. Also, was sollte das Ganze? War es nur der Spleen eines jungen Journalisten, der heiß
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