Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Lire – die er gerecht verteilen werde, wie der Pförtner hoch und heilig versicherte – erinnerte er sich auch an die Namen dieser beiden Freunde. Einen von ihnen habe er bereits aufgespürt, verkündete Giorgio, ohne allerdings einen Namen zu nennen.
Marlen hörte aufmerksam zu.
»Ein echtes Kind dieser Stadt«, sagte er, was aus dem Munde eines Endzwanzigers überheblich klang, zumal der, um den es ging, ungefähr fünfzehn Jahre älter war. »Anfang vierzig, schräger Vogel, schreibt Gedichte, die gar nicht mal so übel sind, kommt aus katastrophalen sozialen Verhältnissen, acht Kinder, Vater Säufer und so weiter. Hat offenbar schon als Kind in Bars ausgeholfen, an Kreuzungen gestanden und Windschutzscheiben geputzt, was eben gerade gefragt war. Eine Kinderfreundschaft, er und Umberto haben zusammen auf der Straße gespielt.«
»Ich dachte, die Cacciapuoti seien wohlhabende Leute gewesen«, wandte Marlen ein.
Giorgio sagte, daß Arm und Reich in bestimmten Kernvierteln Neapels seit jeher Tür an Tür wohnten. Das soziale Gefälle sortiere sich vertikal nach Stockwerken, nicht nur nach Stadtstrichen. Das war so in den Quartieri, in der Altstadt, in der Pignasecca. Herrschaften und Bedienstete wohnten im gleichen Haus, was für alle Beteiligten praktisch war und zum Teil noch heute so gehandhabt werde.
»Dem Vater von Umberto Cacciapuoti hat in den Quartieri ein ganzes Stockwerk eines Palazzo gehört«, fuhr er fort. »Bei der Großtante verhält es sich genauso. Sie bewohnt ganz allein mindestens zwölf Zimmer. Als sein Vater starb, hat Umberto verkauft und sich die Villa in Posillipo umbauen lassen. Die Familie Carotenuto hauste in einem Basso schräg gegenüber«
Marlen merkte sich stillschweigend den Namen, der Giorgio soeben herausgerutscht war. »Und was soll dieser Freund aus Kindertagen mit dem Mord zu tun haben?«
»Das ist noch nicht spruchreif.« Giorgio blieb stehen und nahm die Sonnenbrille ab. »Er ist drogenabhängig. Und hat ein Alibi. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Er hilft in einem Plattenladen aus und will, wie er sagt, seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu Umberto gehabt haben. Seit der Heirat mit Fiorilla.«
»Und der dritte im Bunde?«
Giorgio grinste. »Sie werden mich nicht dazu bringen, auch diesen Namen auszuspucken.«
»Wie wäre es mit Salvatore?« sagte Marlen herausfordernd. »Salvatore delle Donne?«
»Alle Achtung! Sie haben ja doch was auf dem Kasten!«
»Was dachten Sie denn?« fragte Marlen und versuchte, ihre Aufregung zu überspielen.
»Daß Sie nur ein wenig pokern.«
24
Hinter dem angerosteten Schild mit der Aufschrift »Vini e Olii« verbarg sich eine der besten Küchen der Gegend, wie Giorgio versicherte. Geschniegelte Leute in Anzug und Krawatte saßen ebenso wie Bauarbeiter in schmutzverkrusteten Overalls in einem zu dieser Jahreszeit noch recht kalten Hinterzimmer an Resopaltischen. An einer Wand waren Getränkekisten gestapelt, an einer anderen stand eine Vespa. Die restlichen Wände waren versehen mit Fotos von Toto, einem Knoblauchzopf gegen böse Geister und einer düster dreinblickenden, in eine Nische gezwängten Madonna, neben der, von einer Plastikhülle vor Fett und Rauch geschützt, die Ausschanklizenz der Comune di Napoli hing. Daneben die Speisekarte, die mit dem tatsächlichen Angebot nie übereinstimmte. Ein mürrischer Mann mit gelblicher Gesichtshaut brachte Wasser und Wein, seine Söhne servierten das Essen, das man zuvor in der Küche ausgesucht hatte, wo Signora Anna, eine rundliche Frau mit Schürze, seelenruhig Regiment führte. Marlen bestellte eine Portion spaghetti alle vongole , danach alici fritte und spinaci Giorgio pasta e lenticchie , danach eine Portion provola ai ferri mit friarielle .
»Was wissen Sie über delle Donne?« fragte Giorgio.
»Nichts«, sagte Marlen, und das entsprach beinahe der Wahrheit. »Er fährt Taxi. Er hat früher mal bei der LAES mitgemischt und kennt sich daher in den unterirdischen Labyrinthen gut aus.« Und sein Blick geht unter die Haut, fügte sie für sich hinzu.
»Fotograf, nicht verheiratet, kein fester Wohnsitz«, fuhr Giorgio fort. »Ein weiterer Lebenskünstler, genau wie dieser Dante, der übrigens in Wirklichkeit Giro heißt. Auch delle Donne und Cacciapuoti kannten sich schon seit Schulzeiten.«
Marlens Herz klopfte. »Haben Sie auch schon mit ihm gesprochen?«
»Mit delle Donne?« Giorgio schüttelte den Kopf. »Der scheint im Moment abgetaucht zu sein. Ist jedenfalls
Weitere Kostenlose Bücher