Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Höhe mit dem Fahrer befand. Der Mann mit der Halbglatze trug jetzt eine Sonnenbrille und hatte das Fenster heruntergedreht, den Ellbogen wie ein Warndreieck herausgeschoben. Marlen konnte sein Profil erkennen – leichte Hakennase, hohe Stirn – sie sah die brennende Zigarette in der rechten Hand, die auf dem Schaltknüppel lag. Die weiße Plastiktüte lag auf dem Nebensitz. Etwas Dunkelblaues, was ganz oben lag, ein Sweatshirt vielleicht, hing aus der Plastiktüte heraus. Die Ampel sprang um, der Ellbogen wurde eingezogen, der Fahrer gab Gas. Hellblauer Abendhimmel, die letzten Sonnenstrahlen, die die Fensterläden streiften. Vermutlich sangen irgendwo in den Platanen, die die Straßen auf dem Vomero säumten, Vögel. Sie waren nicht zu hören, jedenfalls nicht hier, mitten im Verkehr, wo man gefangen war von den Krakenarmen der Stadt. Dennoch, es kam vor, daß Marlen auch diesen Auswurf der Zivilisation voll Hingabe in sich aufsog wie salzhaltige Luft am Meer oder den Geruch von Gras und Blütenblättern: das Ruchlose, Verruchte von Großstadt, die Anonymität, den Dreck.
In der Via Tasso war der Verkehr so dicht, daß es im Schritttempo wie auf einem Kinderkarussell gemächlich die kurvige Straße bergab ging, nur einige Vespas flitzten quäkend von einer Lücke zur nächsten. Auch auf dem Corso Vittorio Emanuele hatte Marlen keinerlei Problem, dem Auto zu folgen. In Höhe der Funicolare bog der weiße Fiat rechts in eine schmale Gasse ein, die in die Quartieri Spagnoli führte. Marlen rollerte in einigem Abstand hinterher. Das Fahren machte ihr Spaß, sie war nicht mehr besonders konzentriert. Direkt hinter einer Linkskurve stauten sich die Autos. Marlen mußte scharf bremsen, kam ins Schlittern und wäre dem schmutzigweißen Gefährt beinahe in den Kotflügel gefahren. Sie sah, wie der Mann mit der Halbglatze in den Rückspiegel schaute. Es ging nicht vor und nicht zurück. Schon schlossen von hinten weitere Autos auf. Die Abgase, jetzt weniger sinnlich, sammelten sich in der Häuserschlucht.
Marlen beschloß, links auf dem schmalen Bürgersteig an den hupenden, spottenden Autos vorbeizufahren und weiter unten zu warten. Der weiße Fiat mußte in jedem Fall hier durch. Sie kam auf eine kleine Piazza, die aus der Vogelperspektive aussehen mußte wie ein lebendes Mosaik aus verschiedenfarbigen Blechtieren. Kriechend schoben sie sich umeinander, stöhnten hupend auf und stießen immer wieder Gliedmaßen unter dem Panzer hervor, die Zeichen gaben, auf die mit Zeichen anderer Gliedmaßen reagiert wurde.
Marlen fuhr nahe an einen Gemüsestand heran, stellte den Motor ab und sah sich das Geschehen an. » Tutti pazzi «, sagte die Gemüsefrau kopfschüttelnd. Die spinnen doch alle.
Beide Gassen, die in die Piazza mündeten, waren Einbahnstraßen, und alle Autos, die aus diesen Gassen kamen, wetteiferten um die Einfahrt in die dritte Gasse, die bergab führte. Doch so einfach war es nicht, denn einige der Autos, die aus Marlens Richtung kamen, drängten umgekehrt in die andere Einbahnstraße hinein und setzten für sich die Verkehrsregeln außer Kraft, nur kurz, nur solange sie brauchten, um an ihr Ziel zu kommen, und zwar auf direktem Wege. Offenbar war hier jede Richtung die falsche. Beziehungsweise die richtige. Alle wollten überall hin. Nur die Gassen waren zu eng.
Jetzt setzte sich etwas in Bewegung. Die ersten Vehikel fuhren an, stoppten wieder, weil ein Vespafahrer aus dem Nichts auftauchte und sich zwischen den Stoßstangen hindurchfädelte, der Knoten auf der Piazza löste sich, bis alle anderen Autos nachgerückt waren und sich erneut ineinander verkeilt hatten. Die Gemüsefrau sagte, das sei fast jeden Tag so. »Feierabendverkehr.« Achselzucken. »Wenn die Polizei unten die Zufahrt zu den Quartieri sperrt, drängen hier von oben alle rein. Ein Teufelskreis.«
Marlen beschirmte die Augen mit der Hand und suchte nach dem schmutzigweißen Fiat, der mittlerweile auf die Piazza nachgerückt sein mußte, doch sie konnte ihn nicht entdecken. Ging es so langsam vorwärts? Sie stieg von der Vespa und ging zu Fuß die Gasse zurück, versuchte dabei, was völlig sinnlos war, nur durch den Mund zu atmen, doch der Fiat war nicht mehr da. Unmöglich! Sie hastete zur Piazza zurück und ein Stück weit die andere Gasse entlang. Nichts. Konnte sich das Auto unbemerkt in Gegenrichtung an all den wartenden Fahrzeugen vorbeigeschoben haben? Sie hatte doch nur kurz mit der Gemüsefrau geredet! Das Auto hatte sich in Luft
Weitere Kostenlose Bücher