Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
aufgelöst! Marlen war verblüfft. Es war einfach weg. Wie der Panzer in Malapartes Roman.
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Was Beziehungen anging, war Livia grundsätzlich skeptisch. Sie hatte im Laufe ihres Liebeslebens die Überzeugung entwickelt, Männer und Frauen seien zu unterschiedlich, um einander wirklich nahekommen zu können. Was ihr mittlerweile als befriedigende Begründung dafür diente, daß ihre Beziehungen zwar kurzfristig intensiv, aber selten von Dauer waren. Marlen sah das anders. Sie fand, Livia zog es zu den falschen Männern hin: Sie schienen unterschiedlich zu sein, aber innerlich waren diese männlichen Wesen alle gleich. Sie suchten eine unabhängige, selbständige Frau, weil es moderner und simpler war: Sie brauchten sich auf nichts einzulassen, keine Verantwortung zu übernehmen und konnten mit geblähten Segeln bei Windstärke Null die eigene Angst vor Nähe, vor sich und den anderen umschiffen. Und sobald Livia sich einen Schritt näher heranwagte, machten sie die Biege, als verstoße das gegen die Regeln und als sei sie die Spielverderberin. Der einzige Unterschied: in Marlens Sicht gab es, zumindest theoretisch, auch andersgeartete Mannsbilder, in Livias Sicht nicht. Was sie nicht davon abhielt, sich immer wieder mit Männern anzulegen – im sinnlichsten aller Sinne.
Die Nacht bei Jean mochte Auftakt zu einer dieser Beziehungsvarianten oder Ausnahme von der Regel gewesen sein – in jedem Fall war sie ein Lichtblick nach einem langen, eintönigen Winter ohne jeden erotischen Tupfer. Jean – direttore , wie der Portier ihn genannt hatte, mit jener typisch italienischen Mischung aus untertänigem Spott und Hochachtung – hatte die Wohnung nicht geschniegelt und gestriegelt in Anzug und Krawatte verlassen, sondern mit Jeans und Jackett.
Livia saß, in den gestreiften Frotteemantel ihres Gastgebers gehüllt, in einem Liegestuhl auf der Terrasse und trank den zweiten Kaffee. Jean hatte ihr bereits einen Milchkaffee mit einem aufgebackenen Croissant ans Bett gebracht, eine aufmerksame Geste eines aufmerksamen Liebhabers, so haben wir’s gern. Ganz im Gegensatz zu jenen absurden Nächten, nach denen Livia entweder wie ein Phantom aus den Laken schlüpfte und sich davonmachte oder aber Schlaf simulierte, um sich mit dem nächtlichen Beiwohner nicht auch nur eine Sekunde länger austauschen zu müssen.
Das Haus, in dem Jean das oberste Appartement gemietet hatte, war neu und äußerst elegant. Von den obersten Appartements konnte man den Golf sehen. In der Tat war der Blick von der Terrasse einmalig und Grund genug, über alles andere hinwegzusehen: den nur selten funktionierenden Aufzug, das fehlende Fenster in der Küche, die Fernsehantennen der Häuser am Hang. Im Blick die unendlich blaue Fläche des Meeres. Wasserspuren der Boote wie Eidechsen. Manchmal die Inseln am Horizont. Jean sagte, er sitze dort Abend für Abend, schaue auf die Bucht, lasse den Gedanken freien Lauf.
Auf dem Terrassentisch lag das mobile Telefon. Livia hatte sich für diesen Tag bei ihrer Kollegin »schlappgemeldet«, so die mit Rosaria vereinbarte Chiffre für eine aus welchen Gründen auch immer ausufernde Nacht. Sie versuchte, Marlen zu erreichen, aber es nahm niemand ab. Auch der Anrufbeantworter war nicht angeschaltet. Zu dumm. Sie hätte ihr Wohlbefinden gerne mitgeteilt, ohne es allzu ausführlich erklären zu müssen. Außerdem hatte sie eine interessante Neuigkeit zu vermelden.
Jean hatte in einem Restaurant am Wasser einen Tisch reservieren lassen. Ein Abend, der auch noch in der Erinnerung gelungen war: angefangen beim Antipasto über ihre Gespräche bis hin zum Ambiente, zu dem auch zwei ältere Männer mit schütterem Haar und verwegener Kluft gehörten, die sich mit neapolitanischen Liedern von Tisch zu Tisch und von Lokal zu Lokal klampften. Das Essen war ausgezeichnet, der Blick aufs Wasser romantisch, und Jean hatte nicht zuviel und nicht zuwenig geredet, nichts Hochgestochenes, keine Bekenntnisse aus dem Leben eines geschiedenen Mannes oder aus dem eines einsamen Junggesellen. Statt dessen hatte er sich aufrichtig interessiert nach Livias Arbeit erkundigt – und war direkt ins Fettnäpfchen getappt, als er auf das unterirdische Kunstspektakel zu sprechen kam und sie fragte, ob sie als neapolitanische Künstlerin auch vertreten sei. Als Franzose betreute Jean einen bretonischen Bildhauer, der am Wochenende in Neapel eintreffen sollte. Er schlug vor, sie miteinander bekannt zu machen. Vielleicht würde Livia ihnen bei
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