Der Tote vom Kliff
möchten.«
»Gruenzweig wurde also, vermutlich in Verbindung mit
Alkohol, Rohypnol verabreicht.«
»Leider können wir das nur vermuten, weil die
Hauswirtschafterin noch vor dem Eintreffen der Polizei die Gläser gespült hat.
Das hätte ich als Täter auch gemacht«, fuhr Dr. Diether fort.
Lüder schüttelte instinktiv den Kopf, obwohl sein
Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung das nicht sehen konnte. »Das war
in diesem Fall eher eine Dummheit und kein Vorsatz. Wie kommt man an das
Präparat?«
Dr. Diether räusperte sich, bevor er antwortete.
»Normalerweise überhaupt nicht. Natürlich gibt es einen Schwarzmarkt, und
einschlägige Kreise dürften keine Beschaffungsprobleme haben. Wer so etwas
nutzt, ist kein Amateur, sondern weiß um die Wirkung. Gehen Sie davon aus, dass
die Tat keine Kurzschlussreaktion war, sondern ein geplanter Mord. Der Täter
hat sich das Mittel besorgt und hatte vor, sein Opfer zu ertränken.«
»In einer besonders symbolträchtigen Weise«, stimmte
Lüder zu. »Dafür spricht auch der Halsring aus Champagnerflaschen, der das
wehrlose Opfer unter Wasser zog. Jemand wollte ein Zeichen setzen: Seht! Die
amerikanische Heuschrecke ersäuft im Champagner.«
»Für die Sachkenntnis des Mörders spricht auch, dass
im Blut- und Urintest das Medikament nur innerhalb von zweiundsiebzig Stunden
nachweisbar ist. Möglicherweise hat der Täter spekuliert, dass Gruenzweig nicht
so schnell gefunden wird.«
»Nun fehlt mir noch der Todeszeitpunkt«, sagte Lüder.
»Das war in diesem Fall einfach. In der Schwimmhalle
und im Wasser dürften konstant die gleichen Temperaturen herrschen. So lässt
sich der Zeitpunkt ziemlich gut eingrenzen. Ich würde zweiundzwanzig Uhr
schätzen. Nun wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei der Tätersuche«, beschloss der
Rechtsmediziner das Gespräch.
Lüder legte den Hörer auf die Station zurück und
lächelte. Du bist gut, dachte er. Damit habe ich nichts zu tun. Zunächst wollte
er sich wieder der Gefährdungsanalyse widmen, die vor ihm auf dem Schreibtisch
lag, dann entschloss er sich aber, den Abteilungsleiter aufzusuchen.
Das Büro des Kriminaldirektors war größer als Lüders.
Wie in Behörden und auch in der Wirtschaft häufig üblich, bemaß sich die zur
Verfügung stehende Bürofläche nach »Achsen«. Das Zählmaß war häufig die Anzahl
der Fenster.
Nathusius sah auf, als Lüder eintrat, und grüßte
seinen engsten Mitarbeiter. Der Kriminaldirektor war wie immer tadellos
gekleidet und hatte auch das Sakko im Büro nicht abgelegt. Er erkundigte sich
zunächst nach Lüders Familie, während Lüder ein Blick auf das Bild von
Nathusius’ Frau Beatrice warf, das sich der Abteilungsleiter als einzige
persönliche Ausstattung gönnte.
»Was führt Sie zu mir?«, wechselte der
Kriminaldirektor dann das Thema.
Lüder berichtete vom Anruf des Rechtsmediziners.
»Haben Sie um diese Auskunft gebeten?«, erkundigte
sich Nathusius. Ein Lächeln huschte über das runde Gesicht mit den
Sommersprossen.
»Ich war überrascht, dass mich Dr. Diether angerufen
hat. Wir sind doch nicht in diesen Fall involviert?«
Jochen Nathusius legte die Fingerspitzen aneinander
und musterte Lüder durchdringend. »Wir kennen uns schon eine ganze Weile. Daher
mag ich nicht an einen Zufall glauben.«
Lüder versicherte, dass er selbst überrascht gewesen
war, als ihn der Anruf der Rechtsmedizin erreichte.
»Im Landeskriminalamt bin bisher nur ich informiert«,
sagte Nathusius. »Da ich davon ausgehe, dass Sie mich nicht abhören, muss es
wohl Ihr sechster Sinn sein, der Sie zu mir geführt hat. Vor einer
Viertelstunde hat mich Dr. Starke aus Flensburg angerufen und mir von diesem
Fall berichtet. Die Bezirkskriminalinspektion bittet um Amtshilfe.«
»Ist das zu heiß für Starke?«
Nathusius zog die Augenbraue in die Höhe. Er tat damit
seine Missbilligung dafür kund, dass Lüder den Namen des Flensburger
Inspektionsleiters ohne dessen akademischen Zusatz benutzte. Jeder in der
Landespolizei wusste, dass Dr. Starke darauf viel Wert legte.
Hoffentlich schweift der Kriminaldirektor jetzt nicht
ab und fragt mich, wann ich endlich meine Doktorarbeit abschließe, dachte der
studierte Jurist Lüder. Seit Langem drängte ihn Nathusius, sich dieses Themas
anzunehmen, weil sich damit im öffentlichen Dienst sicher einfacher
Karrierechancen ergeben würden, die man Lüder bisher versagt hatte. Doch der
Abteilungsleiter blieb konzentriert beim Thema.
»Es gibt nach dem
Weitere Kostenlose Bücher