Der Tote vom Kliff
warst doch gestern auf Sylt. Da ist diese Ratte
doch umgebracht worden.«
»Thorolf!«, sagte Margit scharf. »So spricht man nicht
über Menschen.«
»Ist doch wahr«, zeigte sich der Junge stur. »Um den
ist es doch nicht schade. Der ist doch ein Ausbeuter gewesen. Die sollte man
rund um den Globus ersäufen.«
Lüder räusperte sich, bevor er antwortete. »Du hast
jetzt ein Alter, in dem revolutionäre Ideen reifen. Man ist gegen alles und
jeden. Wenn dazu jugendlich frische Dynamik kommt, schießt man manchmal über
das Ziel hinaus. Man darf sicher darüber diskutieren und unterschiedlicher
Meinung sein, ob das alles gerecht ist, was dort geschieht, aber das
rechtfertigt noch lange nicht, einen Menschen zu töten.«
»Auge um Auge – Zahn um Zahn«, antwortete Thorolf. »Du
bist ja ein Diener des Systems. Deshalb musst du so sprechen. Solche Typen wie
der Gruenzweig sind für die Ausbeutung der Dritten Welt verantwortlich.«
»Jetzt gehst du aber zu weit, wenn du Lüder
beschimpfst. Er ist Polizist und kein willfähriger Lakai eines Systems, wie du
es nennst.«
»Und dann ist es das einzige Bibelzitat, das du
kennst«, presste Viveka zwischen den Zähnen hervor und kaute weiter.
»Blöde Kuh«, schimpfte Thorolf in Richtung seiner
Schwester.
»Ich würde dich nicht als blöd bezeichnen«, sagte
Lüder. »Leider reicht unser aller Zeit jetzt nicht, aber über deine
trotzkistischen Gedanken würde ich gern noch einmal ausführlich mit dir
diskutieren.«
»Hä?«, antwortete Thorolf irritiert.
»Jetzt weiß der Trottel nicht, was das ist«, lästerte
Viveka. »Aber eine große Lippe riskieren.«
Lüder war aufgestanden. Als er an Thorolfs Stuhl
vorbeikam, fuhr er dem Jungen mit der Hand durchs Haar. »Es ist gut, wenn man
eine Meinung hat. Nur musst du lernen, die in richtige Bahnen zu lenken. Aber
dafür hast du noch ein paar Jahre Zeit.«
»Das sind dumme Sprüche«, sagte Thorolf, aber seine
Stimme klang schon wesentlich weniger aggressiv.
Lüder verabschiedete sich von seiner Familie, musste
Margit versichern, sich nicht wieder in Fällen zu engagieren, die gefährlich
sind, und Sinje zusichern, sich abends ausführlich mit ihr zu beschäftigen.
Dann fuhr er ins Landeskriminalamt.
Am Schreibtisch blätterte er in gewohnter Manier die
Zeitungen durch. Im Boulevardblatt nahm der Sylter Mord fast allein die erste
Seite ein. Lediglich die »lebensgefährliche« Erkrankung eines altgedienten
Schlagerstars, die sich auf der letzten Seite in ein paar Zeilen als
Blinddarmreizung entpuppte, nahm der Sensation ein wenig Raum. Lüder war nicht
überrascht, dass der Artikel aus der Feder von LSD ,
Leif Stefan Dittert, stammte, der ihm bereits in der Vergangenheit begegnet
war. Der Journalist mutmaßte, dass sich jetzt die ganze Finanzwelt aus Angst
und Rache zugleich gegen die deutsche Volkswirtschaft wenden könnte, weil hier
linkssoziale Gruppierungen mit Gewalt und Mord gegen die erfolgreichen
Finanzmagier agieren.
Lüder fiel beim Lesen des Artikels der gleichlautende
Tenor von Thorolfs am Frühstückstisch vorgetragener Anklage gegen Lew
Gruenzweig ein, obwohl der Junge sicher kein ständiger Leser des
Boulevardblattes war. Wenn an diesen Gerüchten auch nur ein Funken Wahrheit
war, dass die Mordtat auf politischen Motiven beruhte, dann würde sich erneut
ein Fall ungemeiner Brisanz in Deutschlands Norden auftun. Und er, Lüder, war
unfreiwillig mitten im Zentrum. Dittert verstand es meisterhaft, Spekulationen,
Halbwahrheiten und im schlimmsten Fall zu erwartende Konsequenzen zu einem
Cocktail zu mixen, der die Gemüter erregte. Formal war dem Artikel nicht
beizukommen, aber der Journalist hatte es zur Meisterschaft gebracht, durch die
Darstellung unzusammenhängender Fakten die Angst der Menschen vor einer
Rezession und latent vorhandene Zukunftsängste zu schüren.
Lüder lehnte sich zurück und atmete tief durch. Im
Mordfall Gruenzweig galt es, nicht nur einen Mörder zu finden, sondern durch
die Darstellung der Hintergründe und Zusammenhänge den Panik machenden Perspektiven
eines Leif Stefan Dittert entgegenzutreten. Da brauten sich hinter den Kulissen
wieder Konstellationen zusammen, von deren Brisanz und Komplexität die Menschen
wohl nie erfahren würden.
Lüder wurde durch die Tür abgelenkt, die mit Schwung
aufflog und gegen die Wand flog.
»Moin, Chiefsuperintendent«, sagte Friedjof, der
mehrfach behinderte Mitarbeiter der Haus- und Postdienste, mit schwerer Zunge.
»Hallo, Friedhof«,
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