Der Tote vom Kliff
nicht, wenn sie nicht in
Verbindung mit dem Mord stehen würde.«
»Der Text ist ziemlich konfus«, sagte Lüder, nachdem
er den Drohbrief ein zweites Mal gelesen hatte. »Allein die Kombination von
›Schulze-Delitzsch‹ und ›Moses‹ erscheint mir mehr als phantasievoll.
Schulze-Delitzsch ist der Begründer des deutschen Genossenschaftswesens und
galt als Linksliberaler. Das war zu seiner Zeit wohl mutig, trotzdem habe ich
bisher nirgendwo gehört, dass man Schulze-Delitzsch als kommunistischen
Revolutionär betrachtet hätte.« Er zeigte auf das Papier. »Hier scheint jemand
auf völlig abseitigen Wegen zu wandeln. Trotzdem – vor dem Hintergrund des
Mordes müssen wir es ernst nehmen.«
»Wir werden diesen Wisch im Labor analysieren lassen«,
sagte Große Jäger und bat um eine Papiertüte, in die er den Drohbrief
vorsichtig bugsierte.
Meyerlinck hüstelte. »Da wäre noch etwas. Das Gebäude
ist mit modernster Technik ausgestattet. Sobald sich jemand dem Grundstück
nähert, werden die Überwachungskameras aktiviert, und die Person wird
aufgezeichnet.«
»Dann haben Sie Bilder vom Überbringer des Drohbriefs?«,
fragten Lüder und Große Jäger gleichzeitig.
Meyerlinck nickte ernst und führte die beiden Beamten
in ein kleines Büro, das mit Technik vollgestopft war. »Unsere
Sicherheitszentrale«, erklärte Meyerlinck und startete einen Computer. »Ich
habe schon bis zu der Stelle vorgespult.«
Man sah deutlich einen Mann mit längeren, über den
Kragen des Parkas hinausgehenden Haaren, der sich dem Briefkasten näherte, noch
einmal vorsichtig nach links und rechts sicherte und dann etwas in den Schlitz
warf. Eilig verschwand der Mann in Richtung Kampener Ortszentrum.
Lüder schmunzelte. »Den kenne ich. Mit dem mussten wir
uns früher schon befassen. Ein übrig gebliebener Möchtegern-Revoluzzer, der
1968 noch in den Windeln lag. Er ist mehrfach in der Lehrerausbildung gescheitert
und fristet heute ein ziemlich trübes Dasein als Empfänger staatlicher
Sozialleistungen.«
»Ist er schon einmal straffällig geworden?«, wollte
Große Jäger wissen.
Lüder wiegte den Kopf. »Ich glaube, über Strafbefehle
und Auflagen ist er nicht hinausgekommen. Zumindest ist er uns nicht als
Gewalttäter bekannt.« Er lachte, was zur Irritation bei den anderen beiden
führte. »Es klingt vielleicht wie Hohn, aber der Mann heißt Wohlfahrt.«
»Wir kümmern uns darum«, versicherte Große Jäger. »Es
scheint aber, als würde von dem Typen keine Gefahr ausgehen. Wenn Sie alle
Bewegungen rund ums Haus aufzeichnen, müssten Sie doch auch Bilder von den
Besuchern haben, die Lew Gruenzweig empfangen hat.«
Meyerlinck schüttelte den Kopf, bevor er sich über die
Tastatur beugte, ein paar Kommandos eingab und auf den Bildschirm wies.
Man sah ein kurzes Aufblitzen, dann war deutlich ein
Taxi zu erkennen. Schemenhaft erkannte man den Fahrgast, der sich bewegte, dann
tauchte der Fahrer auf, öffnete die Fondtür, und Lew Gruenzweig stieg aus. Der
Fahrer holte ein Bordcase aus dem Kofferraum und trug es bis zur Haustür. Dann
stieg er in sein Taxi und fuhr ab.
»Gruenzweig muss seinen Mörder empfangen haben. Wenn
wir davon ausgehen, dass es nicht der Nikolaus war, der durch den Schornstein gekommen
ist, muss es Aufzeichnungen davon geben«, sagte Große Jäger.
Meyerlinck nickte zustimmend. »Das ist zutreffend.
Aber aus verständlichen Gründen kann man das System deaktivieren. Herr Dr.
Laipple und seine Gäste legen großen Wert auf die Einhaltung der Privatsphäre.«
»Dann gibt es auch keine Bilder von den Besuchen Katja
von Mühls?«, fragte der Oberkommissar.
Meyerlinck schenkte Große Jäger einen langen Blick.
»Davon weiß ich nichts«, erwiderte er ausweichend.
»Woher wusste Gruenzweig, wie man das Überwachungssystem
deaktiviert?«, fragte Lüder.
»Ich nehme an, Herr Dr. Laipple hat es ihm erklärt.«
»Mich würde noch etwas anderes interessieren«, sagte
Lüder. »Auf der anderen Seite der Hauptstraße gibt es traumhafte Anwesen. Ein
kurzer Spaziergang durch Kampen lässt jeden Unbewanderten staunen, was für
Häuser man bauen kann und wie schön es sich wohnen lässt, wenn man es
finanzieren kann. Dr. Laipple gehört zu jener Minderheit in Deutschland, die sich
solche Träume erfüllen kann. Dennoch hat er dieses Anwesen erworben und es sehr
aufwendig umgebaut, aber in direkter Nachbarschaft zu den umliegenden
Appartementanlagen.«
Meyerlinck schien einen Moment zu überlegen, bevor
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