Der Tote vom Silbersee (German Edition)
es schon lange nicht mehr. Seine Mutter weinte nur noch selten. Zog sich zurück. Der Junge wusste, dass sie am liebsten nur noch im Bett bleiben wollte. Immer seltener nahm sie daher der Vater zu einem repräsentativen Anlass mit. Nur wenn es unbedingt sein musste. So wie heute.
Als die Eltern aufgebrochen waren, stand der Junge noch am Zaun, als er von Weitem den großen Hund sah. Sein Besitzer führte ihn ohne Leine am Zaun entlang. Er kannte den Hund – ein Beißer. Deshalb sollte er auch einen Maulkorb tragen. Nicht zuletzt, weil er einen anderen Hund lebensgefährlich verletzt hatte. Dem Besitzer war das anscheinend egal, denn er kümmerte sich einen Dreck um die polizeiliche Auflage.
Der Junge pfiff dem Mops. Ohne zu zögern kam der näher. Diesmal trat der Junge nicht nach ihm. Er holte sogar das Bällchen, mit dem sein Vater immer mit dem Hund spielte. Ein böses Lächeln glitt über das Gesicht des Jungen, als er sah, wie der Hund an ihm hochsprang.
»Dumme Töle, du kriegst ihn ja gleich«, flötete der Junge und ging voraus zum Zaun. Er sah den schwarzen Hund näher kommen.
Lange hatte er an seinem Plan gearbeitet. Immer wieder darüber nachgedacht. Wie eine Spinne – geduldig. Seine Zeit würde kommen, das wusste er. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Seine Geduld hatte sich ausgezahlt – und der Zufall.
Der Junge grinste boshaft. »Die zwei Idioten in der Schule fressen mir jetzt aus der Hand, und wenn es läuft, wie ich mir das denke, bin ich den Köter bald los.« Er zeigte Bessy den Ball, hob den Zaun leicht an und tat so, als ob er ihn unter dem Zaun hindurch werfen wollte. Der Mops rannte augenblicklich auf den Weg, direkt vor den schwarzen Hund. Bessy jaulte, dann ging das Heulen in ein jämmerliches Winseln über. Das Knurren des Schwarzen klang wie Musik in den Ohren des Jungen. Er duckte sich schnell, um nicht gesehen zu werden. Stolz und glücklich schlich er ins Haus. Wenig später klingelte ein Nachbar; die Putzfrau machte die Tür auf. Der Junge hörte den entsetzten Schrei und lächelte zufrieden.
9
Andy knallte die Wohnungstür im elften Stock des Hochhauses zu. Sein Alter randalierte mal wieder in der Wohnung. Diesmal hatte er Andys Zimmer verwüstet. Was hatte dem Alten wohl diesmal nicht gepasst? Es brauchte nicht viel, und sein Vater flippte aus. Jahrzehntelanger Alkoholkonsum verändert den Charakter eines Menschen. Alles, aber auch alles hatte er zu Kleinholz verarbeitet. Es war zwar keine große Menge, denn der Alte hatte schon mehrmals Andys Zimmer heimgesucht, aber das Wenige, das Andy noch besaß, war nun auch in Trümmer zerlegt. Seine Mutter lag – wie immer – besoffen auf der Couch. Ihn widerte der säuerliche Geruch an, den sie ausströmte.
Wann hatte sie aufgehört zu kämpfen?
Wann hatte sie aufgehört, gegen ihren Mann anzugehen?
Wann hatte diese Gleichgültigkeit von ihr Besitz ergriffen?
Es war einfacher zu trinken und alles, um sich herum zu vergessen. Auch den eigenen Sohn.
Andy knallte die Faust an die Wand, die mit Graffitis besprüht war. Der Schmerz ließ ihn wieder einigermaßen klar denken. Der Geruch nach Urin und Erbrochenemim Hausflur stach ihm in die Nase. Das war’s wohl. Endgültig. Er würde nie mehr nach Hause zurückkehren. So etwas wie ein Glücksgefühl überkam ihn. Er war frei, konnte tun und lassen, was er wollte. Das halbe Jahr, das er noch in die Schule gehen müsste, um seiner Schulpflicht nachzukommen, schenkte er sich. Die Sozialbehörde hatte er nicht zu fürchten. Er war einer unter vielen. Und bis er mal wieder an die Reihe kam, war das Schuljahr längst um. Außerdem mussten sie ihn erst einmal finden. So ruhte seine Akte. Die Brillenschlange vom Amt ließ die Zeit für sich arbeiten. Anfangs war er noch recht gerne in die Schule gegangen. Bis ihn die anderen hänselten.
»Du riechst wie ein Schwein. Und deine Klamotten erst!«
Keiner wollte mit ihm spielen oder mit ihm zu tun haben. So stand er in der Pause alleine. Die anderen bissen von ihren Pausenbroten ab oder kauften sich etwas beim Hausmeister. Er sah meist hungrig zu. Seine Mutter schlief noch, wenn er in die Schule ging, und an ein Pausenbrot dachte sie schon gleich zweimal nicht.
Seinen Eltern war es egal, ob er die Schule besuchte.
Nachts konnte er oft nicht richtig schlafen. Der Krach im Wohnzimmer, wenn seine Eltern tranken, ließ ihn immer wieder aufwachen. Er war gerade mal zehn Jahre alt, als er an einer braunen Flüssigkeit nippte. Danach
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