Der Tote vom Strand - Roman
Problem, wenn Inspektorin Moreno vorbeischauen wollte. Irgendwann zwischen elf und zwölf vielleicht, denn um diese Zeit musste auch Vegesack gewisse Angelegenheiten erledigen.
»So früh?«, fragte Moreno. »Kannst du wirklich ausreichend schlafen, wenn du deine Freundin mitten in der Nacht abholen musst?«
»Wir wollen doch gar nicht schlafen«, sagte Vegesack.
Ewa Moreno musste lachen. Sie bedankte sich und legte auf.
Na dann, dachte sie. Ein Schachzug ins Blaue. Aber immerhin ein Schachzug.
Das war wieder ein Zitat, das wusste sie. Sie fragte sich kurz, was es bedeuten mochte, dass ihre Probleme sich in ihren Gedanken immer wieder als vorgefertigte Ausdrücke und Phrasen niederschlugen.
Es bedeutet gar nichts, beschloss sie dann.
19
»Es muss einfach sein«, sagte Sigrid Lijphart.
Helmut faltete seine Zeitung zusammen.
»Ich kann mich nicht anders verhalten, und ich kann dir nicht mehr erzählen. Du musst mich verstehen.«
Er nahm seine Brille ab. Klappte sie umständlich zusammen und steckte sie ins Etui.
»Später werde ich dir alles erklären. Wenn jemand anruft, sag, ich sei zu einer Freundin gefahren. Und ließe von mir hören.«
»Welche?«
»Was?«
»Welche von deinen Freundinnen besuchst du angeblich?« Die verärgerte Ironie in seiner Stimme war ungewöhnlich deutlich. Sie sah außerdem die roten Flecken an seinem Hals, die sich sonst nur vor dem Fernseher zeigten, wenn seine Lieblingsmannschaft ein wichtiges Spiel zu verlieren drohte. Oder wenn Metzger Soerensen noch größeren Unsinn geredet hatte als sonst.
Ja, kein Wunder, dachte sie. Kein Wunder, dass er wütend war. Sie hatte ihn aus allem ausgeschlossen; vielleicht war das von Anfang an ein Fehler gewesen, doch jetzt war es zu spät, um noch etwas daran zu ändern. Viel zu spät.
Und es war jetzt wirklich nicht der richtige Moment, um ihn zu bedauern. Später würde sie versuchen müssen, wieder gutzumachen, was wieder gutzumachen war. Nachher. Wenn er
wirklich ein Fels war, dann sollte er das jetzt unter Beweis stellen.
»Tut mir Leid«, sagte sie. »Ich bin dir gegenüber ungerecht, aber ich habe keine Wahl. Versuch das zu verstehen. Und hab Vertrauen zu mir.«
Er musterte sie jetzt mit steinernem Blick. Mit harten, aber nicht gehässigen Augen. Sie waren einfach weiterhin felsenfest und auf eine gewisse Weise leer, so dass sie sich doch fragen musste, ob sie überhaupt einen Ausdruck zeigten ...
»Verlass dich auf mich«, sagte sie noch einmal. »Ich mach mich jetzt auf den Weg. Ich ruf dich an.«
Er gab keine Antwort, aber sie zögerte noch einen Moment.
»Möchtest du etwas sagen?«
Er schob die Zeitung beiseite. Stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf auf die Hände. Schaute sie weiterhin mit diesem steinernen Blick an.
»Finde sie«, sagte er. »Ich will, dass du sie nach Hause holst.«
Sie streichelte seine Wange und ging.
Die erste Stunde im Auto war fast wie ein Albtraum. Es wurde dunkel, es regnete, es herrschte zähflüssiger Verkehr. Sie war schon unter normalen Umständen eine schlechte Autofahrerin, was sie als Erste zugeben würde, und an einem solchen Abend wurde alles nur noch schlimmer.
Darf keinen Unfall bauen, dachte sie und umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Es darf nichts passieren, ich muss das hier schaffen.
Dann konnte sie plötzlich nicht mehr. Die Tränen schienen wie aus einer heißen Quelle emporzusprudeln, und sie musste an den Straßenrand fahren und warten. Das war natürlich ein riskantes Manöver, aber weiterzufahren wäre noch gefährlicher gewesen. Sie schaltete den Warnblinker ein und schluchzte dann los. Besser, ich lasse den Tränen jetzt ihren Lauf, dachte sie.
Sie weinte eine ganze Weile und war sich am Ende nicht sicher, ob es ihr wirklich besser ging, als sie weiterfuhr.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage betete sie, und zum zweiten Mal zweifelte sie stark daran, dass jemand sie hörte. Als sie endlich bei Loewingen die Autobahn erreichte, versuchte sie es deshalb mit einem Handel.
Wenn wir das alles heil überstehen, dann werde ich dir auf Knien danken. Hörst du, Gott? Das verspreche ich dir!
Er wartete wie abgemacht an der Abfahrt. Als sie ihn im Licht von Straßenlaterne und Autoscheinwerfer sah, wurde ihr für einen Moment schwindlig.
Was ist bloß los, fragte sie sich.
Träume ich?
Warum habe ich das Gefühl, ins Leere zu stürzen?
Danach biss sie sich in die Lippe, fuhr langsamer und blinkte ihn
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