Der Tote vom Strand - Roman
mit der Gerechtigkeit doch übertreiben.«
Moreno dachte eine Weile nach. Ihr Gastgeber nahm die Mütze ab, zog einen Kamm aus der Hosentasche und fuhr damit einige Male durch seine dünnen weißen Haare.
»Wie haben die Leute reagiert?«, fragte Moreno. »Die Gefühle müssen doch ziemlich hochgekocht sein.«
»Es war die pure Hysterie«, seufzte Salnecki und setzte seine Kopfbedeckung wieder auf. »Sie waren wie verrückt, manche wollten ihn lynchen, ich wurde nachts angerufen. Es war schon ein Glück, dass alles in den Sommerferien passiert ist, sonst hätten wir die Schule wohl schließen müssen. Es war übrigens mein letztes Jahr. Im Dezember bin ich dann in Pension gegangen. Ich wünschte, es wäre schon im Juli so weit gewesen ... aber andererseits wäre es für meinen Nachfolger ja auch nicht angenehm gewesen, seine neue Stelle mit einem solchen Skandal anzutreten.«
»Ihre Beziehung?«, fragte Moreno. »Ich meine, die von Maager und diesem Mädchen ... ging die schon lange? War es zum Beispiel an der Schule allgemein bekannt?«
»Beziehung«, schnaubte Salnecki. »Das war doch keine Beziehung! Die Kleine hatte es auf ihn abgesehen, und daraufhin sind sie einmal zusammen im Bett gelandet. Ich glaube, sie waren beide betrunken. Er hatte doch Familie, dieser Maager ... eine Frau und eine kleine Tochter.«
»Das ist mir bekannt«, sagte Moreno. »Aber was ist dann mit Maager passiert? Hatten Sie danach noch Kontakt zu ihm?«
Salnecki machte wieder ein düsteres Gesicht. Hatte vielleicht auch ein schlechtes Gewissen, überlegte Moreno. Als hätte er eingreifen und das Unglück auf irgendeine Weise verhindern können. Er beugte sich vor und füllte noch einmal die Gläser.
»Nein«, sagte er. »Nie. Er hat doch den Verstand verloren. Sitzt hier in der Nähe in einem Heim. In den ersten Jahren haben ihn einige Kollegen noch ab und zu besucht. Konnten aber nie auch nur ein Wort aus ihm herausholen ... nein, das hat ihn für den Rest seines Lebens zerbrochen, das sage ich Ihnen.«
»Aber was ist passiert, als sie ... sich begegnet sind, Maager und die kleine Maas? Es war nur einmal, haben Sie gesagt?«
Salnecki zuckte mit den Schultern.
»So viel ich weiß. In der Schule hatte eine Discothek für die Schüler stattgefunden. Maager und einige andere Lehrer hatten dabei Aufsicht geführt. Danach gingen sie zum Werklehrer — einem Junggesellen —, tranken ein bisschen und redeten. Es war eine Woche vor Ferienbeginn ... tja, und dann tauchte am frühen Morgen eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern auf. Das darf natürlich nicht sein, aber sie wurden ins Haus geholt, und dann kam es, wie es kommen musste. Maager stieg mit Winnie Maas ins Bett und ...«
»Sie wurde schwanger, und er hat sie umgebracht«, fügte Moreno hinzu. »Sechs, sieben Wochen später?«
»So ungefähr war es wohl, ja«, sagte Salnecki. »Eine schlimme Geschichte, wie gesagt. Aber auf Ihr Wohl!«
Sie tranken. Moreno beschloss, das Thema zu wechseln.
»Dieses Mädchen, Winnie Maas, sie war ein wenig ... frühreif, stimmt das?«
Salnecki räusperte sich und suchte in seinem Wortschatz.
»De mortuis nihil nisi bene«, sagte er. »Ja, sagen wir frühreif.«
»Warum hat er sie umgebracht?«
Salnecki zupfte sich an einem Ohrläppchen und machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Hat wohl die Kontrolle verloren, nehme ich an. Vermutlich war es wirklich so einfach. Die Kleine wollte wahrscheinlich keine Abtreibung vornehmen lassen. Wollte das Kind bekommen... vielleicht verlangte sie auch einen Haufen Geld für ihr Schweigen. Oder sie wollte ihn dazu zwingen, die Vaterschaft anzuerkennen... ja, ich tippe darauf, dass es ungefähr so war. Sie hatte ihn in der Nacht angerufen, in der alles passiert ist. Sie haben sich oben auf der Eisenbahnbrücke getroffen, und dann hat er die Nerven verloren. Ist einfach durchgedreht, wie gesagt. Ob er schon verrückt geworden war, ehe er sie hinuntergestoßen hat oder erst danach, darüber kann man nur spekulieren ... und das hat man ja zur Genüge getan. Das war auch bei der Gerichtsverhandlung eine Art springender Punkt. Im Hinblick auf Verantwortung und Zurechnungsfähigkeit ... ob er wusste, was er tat, oder nicht. Ja, dieses Ding hier ist wirklich ein gebrechliches Gerät ...«
Er lachte kurz und tippte sich mit zwei Fingern an die rechte Schläfe. Moreno verzog den Mund.
»... aber dieses hier hält ja schon seit einundachtzig Jahren«, fügte er mit bescheidenem Lächeln
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