Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
mysteriöse Tote von der Isar« lautete die Überschrift des Artikels, der mit einem Foto des Unbekannten an die Presse weitergegeben worden war.
Nach dem langen Tag im Büro fühlte er sich erledigt. Er schwitzte. Die Haare klebten an seiner Stirn, das Hemd hatte er bis zum Bauchnabel aufgeknöpft. Er fuhr mit heruntergelassenen Seitenfenstern. Die Klimaanlage ließ er ausgeschaltet und dachte dabei wütend an Nele. Sie hatte ihn oft mit dem Wagen alleine mehrmals um den Block fahren lassen, bis die Innentemperatur ihrer Meinung nach ideal war für Severin. Ihrer Meinung nach, dachte Gerald verbittert. Sie wusste, welche Temperatur der Brei haben musste, wann und wie viel Sevi essen durfte und welche Melodie zum Einschlafen erklingen sollte. Hatte irgendwann nach Severins Geburt auch nur für den Bruchteil einer Sekunde gezählt, was er meinte, dachte oder fühlte?
Als er die Eingangstür öffnete, wurde ihm bewusst, dass sich der Geruch der Wohnung in der letzten Zeit allmählich verändert hatte. Die Diele, die Küche, das Bad, das Schlafzimmer rochen nicht mehr nach Familie, nach warmer Milch, nach Brei oder nach Windeln. Nele hatte seine Wohnung vor ihrem Einzug als Behausung bezeichnet. Als Baracke. Als Junggesellen-Container. Deprimiert stellte Gerald fest, dass sie sich diesem ursprünglichen Zustand wieder annäherte. Aber welchen Unterschied machte das für ihn? Er wusch sich Gesicht und Hände an der Spüle, griff ein Bier aus dem Kühlschrank und schaltete das Radio an, um die Stille zu übertönen. Nach den ersten Schlucken nahm er einen Stift und markierte auf dem Wandkalender über dem Kühlschrank das übernächste Wochenende mit einem großen »S«. Es war derselbe Kalender, auf dem Nele jeden einzelnen Wachstumsschritt Severins notiert hatte, mit Zusatzbemerkungen darüber, ob dieser Schritt innerhalb des normalen Entwicklungszeitraums lag, den Nele ihrer Bibliothek aus Ratgebern entnommen hatte. Doch seit vier Monaten kannte der Kalender nur noch das große, prägnante S als Eintrag – mit einem breiten, diagonalen Strich durch den Buchstaben für jene Besuche, die Nele im letzten Moment abgesagt hatte. Obwohl er es sich selbst nicht eingestehen wollte, könnte diese Buchführung für spätere rechtliche Auseinandersetzungen um das Sorgerecht und die Besuchszeiten nützlich sein.
Gerald trank den letzten Rest Bier und drehte die leere Flasche in den Händen. Langsam wurde ihm bewusst, dass es ihm nicht mehr um Nele ging. Sicher, er war fremdgegangen, aber schon in der Zeit davor hatte er gespürt, dass sie beide sich in einer Krise befunden hatten. Außer wenn es um Severin ging, hatten sie kaum mehr miteinander gesprochen, und solange Nele sich das nicht eingestand, konnte er einfach nicht normal mit ihr reden. Seinen Einwand, dass er nur deshalb die Nacht bei Franziska verbracht hatte, weil sie beide sich immer mehr voneinander entfernt hatten, ließ sie nicht gelten. Und deshalb weigerte er sich, die simplen Täter- und Opferrollen, die sie zugeteilt hatte, zu akzeptieren. Ja, dachte Gerald bitter, die Ehe ist wohl Vergangenheit, das Kind die einzige Gegenwart, die zählt. Vermutlich hatte Batzko, dessen Ehe mit zwei Kindern vor über zehn Jahren in die Brüche gegangen war, Recht. Wenn er zu oft nachgab, auf die Besuche verzichtete, lief er Gefahr, sich immer mehr von seinem Sohn zu entfernen. Und vielleicht war genau das ja Neles Absicht.
Gerald stand auf, ging in das Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Erste Wolken zeigten sich vereinzelt am Himmel, aber in ihnen lag nicht einmal die Andeutung eines Hitzegewitters. Dennoch fühlte er sich zu müde und zu deprimiert, um in einen Biergarten zu radeln. Er nahm ein zweites Bier und den Grappa aus dem Kühlschrank und versuchte, seine Gedanken auf den unbekannten Toten von der Isar zu lenken.
5
Um halb zehn lag eine Liste mit den Telefonaten, die in der Zentrale eingegangen waren, auf Batzkos Schreibtisch. Bereits am frühen Morgen hatten sich zahlreiche Leute bei der Polizei gemeldet. Unter ihnen eine Frau, die in dem Toten zweifelsfrei ihren Ehemann, den Rechtsanwalt Arndt Baumann wiedererkannt hatte, die Bürosekretärin des Anwalts, ein Dutzend Anwaltskollegen aus München, zwei seiner Nachbarn aus Englschalking, eine Frau aus Giesing, die beobachtet haben wollte, wie die Person mehrmals eine Wohnung in ihrer Nähe betreten hatte, sowie eine Anruferin, die den Mann auf dem Foto vor drei Monaten im Urwald bei einem Kannibalenstamm
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