Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
im Wohnzimmer?«
Minker antwortete, stand auf, begrüßte seine Frau mit einem Kuss auf den Mund und strich ihr flüchtig über die Wangen. Frau Minker war um wenige Zentimeter größer als ihr Mann. Sie trug eine karierte Bluse und trotz der hochsommerlichen Temperaturen eine offene, hellbraune Strickjacke, die ihr bis über die etwas fülligen Hüften reichte. Ihr Gesicht war unscheinbar, doch sie besaß eine warmherzige Ausstrahlung und blickte den Kommissaren bei der Begrüßung direkt in die Augen.
»Kommen Sie wegen Sandros Verletzung?«, fragte sie und legte ihre Hand in die ihres Mannes, der noch immer etwas unbeholfen neben ihr stand.
»Das fällt nicht in unseren Bereich«, antwortete Batzko. »Gestern Morgen wurde nicht weit von hier ein Obdachloser tot aufgefunden. Wir gehen von einer Gewalttat aus, die sich am späten Sonntagabend ereignet hat.«
»Da haben sie dich gefragt, Schatz, weil dir doch hier nichts entgeht, nicht wahr?«
Minker antwortete nicht, er wich ihrem Blick aus und bewegte den Unterkiefer, als würde seine Zunge einen Erdnussrest aus einer Zahnspalte puhlen.
» Alles kann ich ja auch nicht sehen«, sagte er etwas kleinlaut, als wäre es eine, wenn auch minimale Verletzung seiner Dienstvorschriften. Er setzte sich wieder.
»Du bist doch so vernarrt in deine Spaziergänge, dass dich auch das Gewitter am Sonntagabend nicht gestört hat. Nass wie ein Pudel warst du. Alle Welt ist geflüchtet, als hätte es Fliegeralarm gegeben, nur du bist draußen geblieben.« Sie sprach mit derselben Dialektfärbung wie ihr Mann und war im gleichen Alter. Eine Sandkastenliebe, stellte sich Gerald vor, aus einem kleinen Dorf irgendwo in Sachsen. Nach dem Mauerfall sind sie sicher hierhergekommen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, aber der Kopf von Hans Minker ist noch in der Nationalen Volksarmee steckengeblieben.
Aus dem ersten Stock war undeutlich eine flehende Kinderstimme zu hören.
»Sandro, Liebling?« Frau Minker war wie elektrisiert. »Ich bin schon unterwegs.« Und ohne sich weiter zu erklären, verließ Frau Minker den Raum.
Die beiden Kommissare erhoben sich. Batzko zog eine Visitenkarte aus seiner Geldbörse. »Wir möchten Sie nicht weiter stören. Falls Ihnen in den nächsten Tagen doch noch etwas einfällt oder Sie etwas hören sollten, melden Sie sich bitte umgehend bei uns.«
Hans Minker nickte knapp, mit aufeinandergepressten Kiefern, und folgte den Kommissaren in die Diele. Geralds Blick fiel auf einen Stapel Flugblätter, die auf einem Ablagefach unter dem Spiegel lagen. »Schützt eure Kinder! Schützt die Isar!« lautete die fettgedruckte Überschrift. Der weitere Text wurde von einem Schlüssel, der darauf abgelegt worden war, verdeckt. Gerald las einzelne Worte wie »Gefahr«, »Verschmutzung«, »Selbsthilfe« und weiter unten die Adresse und Telefonnummer von Familie Hans und Gerda Minker.
»Meine Frau arbeitet für ein großes Versandhaus«, erklärte der Hausherr, dem Geralds Blick offenbar nicht entgangen war. »Sie nimmt Bestellungen entgegen und solche Sachen. Da kommt sie natürlich mit den Leuten in Kontakt und hört ihre Sorgen.«
»Gemeinsame Sorgen, gemeinsames Handeln, nicht wahr?«, fragte Batzko mit einem warnenden Unterton in der Stimme. »Der Grat ist schmal. Man sollte nie vergessen, wofür alleine die Polizei und die Justiz zuständig sind.«
»Die Polizei, dein Freund und Helfer, ich weiß«, antwortete Minker, legte die flache Hand im rechten Winkel vor die Stirn und drehte den Kopf nach links und rechts wie jemand, der Ausschau hält. »Irgendwo wird sie schon sein, die Polizei.«
Um die Stelle zu finden, an der man den Toten entdeckt hatte, kehrten sie zu ihrem Auto zurück und begutachteten die Fotos des Kriminaldauerdienstes. Sie gingen in nördlicher Richtung an einem umzäunten Kinderspielplatz vorbei, passierten einen kleinen Hügel, der durch zwei Parkbänke zu einem Aussichtsplatz befördert worden war, und stießen auf den schmalen Fußweg, der zur Isar führte. Ein Paar ging vor ihnen, Hand in Hand, und in den freien Händen jeweils einen Hund an der Leine, die in entgegengesetzte Richtungen drängten, als wollten sie die beiden auseinandertreiben. Aber sie hielten stand.
Ungefähr auf der Mitte der Strecke, wo links und rechts das Gebüsch am dichtesten wuchs, war die Leiche des Unbekannten gefunden worden, keine zwei Schritte vom Fußgängerweg entfernt. Entweder hatte hier die tödliche Auseinandersetzung
Weitere Kostenlose Bücher