Der Toten tiefes Schweigen
zuweilen ebenso bereichert wie die Bibel und die Odyssee.
Sie trat auf die hell erleuchtete Straße hinaus, auf der sich Studenten und Einkaufsbummler drängten, und sah sich gezwungen, auf der Fahrbahn zu gehen. Sie war von Cambridge begeistert. Alles war hier. Dankbarkeit wallte in ihr auf, für ihre Arbeit, das College, die frischen intellektuellen Anregungen, neue Freunde. Nach einer Reihe von Fehltritten schien der Weg, der vor ihr lag, ebenerdig.
Sie wünschte, sie hätte Simon Serrailler keine Nachricht hinterlassen.
[home]
Einundsechzig
D addy ist im Badezimmer schlecht geworden, und jetzt weint er«, hatte Hannah gesagt, als sie nach zehn Uhr die Treppe ins Arbeitszimmer hinuntergelaufen kam. Cat hatte gerade auf eine lange Mail ihrer Sprechstundenhilfe geantwortet. Dass sie jetzt von der Arbeit freigestellt war, um Chris zu betreuen, bedeutete nicht, dass sie keinen Kontakt mehr hatte, und sie wusste, falls sie ihn aufgeben würde, wäre es später noch schwerer, die Zügel wieder aufzunehmen. Was immer »später« bedeuten mochte.
Sie hatte Hannah wieder zu Bett gebracht, aufgewischt und war ins Schlafzimmer gegangen.
»Chris?«
Er hatte den Kopf abgewandt.
»Ach, mein Schatz.«
Seine Schultern hatten gelegentlich gezuckt. Sie hatte den Arm darum gelegt und ihn an sich gedrückt.
»Ich weiß.«
»Du weißt gar nichts, verdammt.«
»Nein.«
Das stimmte. Ganz gleich, wie sie sich fühlte, wenn sie ihn beobachtete, versorgte, ihn in Schmerz und Not sah, es war anders, abgesondert, es passierte ihm und nicht ihr. Dann hatte er etwas vor sich hin gemurmelt.
»Wie?«
Er hatte sie ein Stück von sich weggeschoben.
»Chris?«
»Ich kann nicht richtig sehen. Es ist wie ein Tunnel. Ich kann geradeaus sehen, aber sonst nichts.«
»Seit wann?«
»Vorhin. Ich weiß es nicht. Ich bin wach geworden. Dann war es so.«
Sie hatte nichts gesagt, weil ihr die Worte fehlten. Nach einer halben Stunde hatte sie ihm eine Morphiumspritze gegeben und war so lange bei ihm geblieben, bis er eingeschlafen war, und hatte sich wieder an den Computer gesetzt. Merkwürdig, sie hatte die Notizen mit äußerster Konzentration fertiggestellt und abgeschickt, bevor sie eine Anfrage des jüngeren Stellvertreters über einen Patienten bearbeitet hatte, der seiner Meinung nach Borreliose hatte – ob Cat jemals einen solchen Fall in der Gegend angetroffen habe? –, und hatte verschiedene Artikel im
BMJ
gelesen. Ihr Verstand gierte nach Fakten und medizinischen Informationen über alles andere als Hirntumore, und die Arbeit beschäftigte sie – hielt sie im Erdgeschoss fest, dachte sie –, obwohl die Tür angelehnt war und ein Teil ihrer selbst auf jedes Geräusch von Chris lauschte oder, wie immer, von den Kindern.
Als sie wieder zu sich kam, war es halb zwei, und Chris rief nach ihr.
Er lag auf dem Rücken, die Augen offen und tränenfeucht.
»Ich kann das nicht«, sagte er. »Du wärst darin besser.«
Sie nahm seine Hand. »Ich kann dir nicht noch eine Spritze geben, aber morgen werde ich dir als Erstes eine Spritzenpumpe holen. Das ist viel bequemer für dich. Ich denke, wir sollten jeden Tag eine Schwester aus Imogen House kommen lassen – die kennen sich mit den Dosierungen und allem anderen viel besser aus.«
»Schick mich nicht dorthin.«
Sie schwieg. Er hatte immer gesagt, dass er nie ins Hospiz gehen wolle, obwohl er Patienten gern dort eingewiesen hatte und wusste, wie gut man sich um sie kümmerte, wusste, dass es viel besser war als das Krankenhaus. Cat hatte es nicht verstanden und nie Einwände erhoben.
»Cat?«
»Nein. Wenn du hierbleiben willst, dann bleibst du hier.«
»Muss ich eine von ihnen kommen lassen?«
»Nein. Aber wenn du es ertragen könntest, würde es helfen. Die wissen wirklich viel mehr als ich über …«
»Das Sterben.«
»Ja.«
»Es hat nichts geholfen. Denk in Zukunft daran. Vergiss die Behandlung, die nützt nichts.«
»Jeder Mensch ist anders, weißt du?«
»Scheiße, wer hat denn das Ding, du oder ich? Mein Gott, immer musst du alles besser wissen, oder? Aber du weißt es nicht. Diesmal weiß ich es verdammt viel besser.«
Das geschah immer häufiger, ein heftiger Wutausbruch und boshafte Anschuldigungen gegen sie. Das war der Tumor, der da sprach, musste sie sich immer wieder ermahnen, nicht Chris. Aber das war der schwerste Teil. Zweimal war er auf Sam losgegangen und hatte ihn angeblafft, hatte Hannah wütend angeschrien und sie zu Tode erschreckt. Kurz
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