Der Toten tiefes Schweigen
nicht genug da, doch sie hatten eine großzügige Wohltäterin. Wenn sie starb, wusste niemand, was aus der Abtei oder den Nonnen werden sollte.
Jane stellte den Wagen ab, stieg aus, und schon legte sich diese unglaubliche Stille über sie. Die Brise erzeugte ein murmelndes Geräusch in den Pappelästen und ein leichtes Rascheln, wenn sie die angehäuften Blätter verschob, doch sonst war nichts. Stille. Die verblüffendste, greifbarste Stille, die Jane je erlebt hatte. Sie erfüllte sie mit einem Gefühl der Ruhe, wie jeden Tag in den sechs Monaten, die sie hier verbracht hatte. Die Stille war in dieser Zeit Teil von ihr geworden, hatte sich in ihr eingenistet, und etwas war ihr geblieben, von dem sie zehren konnte, nachdem sie fortgegangen war. Während sie diese Stille einatmete, merkte sie, dass sich ihre inneren Reserven wieder auffüllten, um die nächsten paar Monate zu überstehen. Wenn es nur darum gegangen wäre, mit dieser Stille zu leben, wäre sie noch hier.
Es war zehn nach elf. In der Abtei wären alle bei der Arbeit. Sie stieg wieder in ihren Wagen, fuhr zur Seite des Gebäudes, parkte und schlenderte zurück auf das Gelände. Niemand war zu sehen. In der Ferne äste Wild. Ein Eichhörnchen flitzte einen Baumstamm hinauf und spähte auf sie hinunter. Jane ging zu der Eiche mit der Bank unten um den Stamm, wo sie so oft gesessen, gelesen, nachgedacht, das Brevier gebetet hatte. Und mit sich selbst gerungen. Es war angenehm, nun hier zu sitzen, frei von inneren Kämpfen. Die Entscheidung war getroffen. Sie war schmerzhaft und schwierig gewesen, doch Jane wusste jetzt, dass es richtig gewesen war, zu gehen, und wenn sie noch so glücklich war, als Besucherin wieder hier zu sein.
Das Leben war ein Durcheinander aus gefassten und verworfenen Plänen gewesen, aus Traurigkeit und vor allem Rastlosigkeit – über zwei Jahre lang, wie ihr nun klarwurde. Begonnen hatte es, als sie nach Lafferton gezogen war, was sich in mancher Hinsicht als der falsche, in anderer als der richtige Ort für sie erwiesen hatte. Doch in Lafferton war alles beängstigend und unbeständig gewesen. Sie war naiv gewesen, sie hatte einige Menschen gegen sich aufgebracht, anderen keine Chance gegeben. Schon vor ihrer Ordination war sie vom mönchischen Ideal in Vergangenheit und Gegenwart fasziniert gewesen, hatte ausgiebig darüber gelesen, und ein Teil ihrer selbst sehnte sich nach dem Kloster. Sie war in einem emotional verletzlichen und zersplitterten Zustand zur Abtei gekommen, und ihre Zeit hier hatte ihr Heilung verschafft und ein gewisses Maß an Frieden. Hier hatte sie wieder zu sich gefunden, hatte vielem eine Perspektive gegeben, was ihr geholfen hatte, den Prozess der inneren Reife zu Ende zu bringen. Sie war zufrieden gewesen. Doch obwohl sie sich an an ihre Träume geklammert und schon gleich gespürt hatte, dass sie sehr viel an diesem Ort unter diesen Menschen hier gewann, hatte sie auch gewusst, dass es kein Leben für sie war. Nicht auf Dauer. In Wirklichkeit, das erkannte sie nun, war es ihr nicht zu durchgeistigt, sondern zu alltäglich, und was sie am meisten beunruhigt hatte, war die Klaustrophobie, mit einer kleinen Gruppe anderer Frauen unter beengten Bedingungen zu leben. Da der Alltag im Kloster äußerst beengend war – obwohl das Haus riesig war und der Park und die Gärten allen stets offen standen –, hatte Jane die Außenwelt gefehlt. Sie hatte das Klosterleben romantisiert und ihre eigene Fähigkeit, darin aufzugehen, falsch eingeschätzt. Die Wahrheit hatte sie wie ein Schock und eine Lektion in Bescheidenheit getroffen. Sie hatte sich geschämt und war niedergeschlagen gewesen, doch die anderen Nonnen hatten sie mit bewundernswerter und außerordentlicher Freundlichkeit und gesundem Menschenverstand behandelt. »Du bist nicht die Erste, und du wirst nicht die Letzte sein«, hatte die Äbtissin gesagt. Schwester Catherine war Realistin.
Jane stand auf, schlenderte zurück und ging zur Weide, auf der Hühner im Gras um ihre Holzställe herumpickten. Eine Maschine lärmte. Sie trat durch das Tor. Die letzten Stangenbohnen waren geerntet worden. Eine Schwester in Stiefeln und mit Ohrschützern, die Ordenstracht sorgfältig hochgesteckt, führte eine Bodenfräse. Jane sah zu, bis sie das gegenüberliegende Ende erreicht hatte, dann fachgerecht kehrtmachte und auf sie zukam, aufschaute und wie verrückt zu winken begann. Die Nonne schaltete den Motor ab. Der Geruch nach frisch umgepflügtem
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