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Der Toten tiefes Schweigen

Der Toten tiefes Schweigen

Titel: Der Toten tiefes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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Boden stieg auf.
    »Jane! Die Haare hätte ich überall erkannt! Wie schön, dich zu sehen. Willst du bleiben? Bist du zum Mittagessen gekommen?« Schwester Thomas breitete die Arme aus und umschlang Jane mit einer warmherzigen Umarmung, dann hielt sie Jane auf Armlänge von sich und lächelte. »Du siehst gut aus. Die Welt steht dir. Du warst hier drinnen blass geworden, weißt du, und sieh dich jetzt an. Niemand hat mir gesagt, dass du kommst. Sieh mal, als du fortgingst, habe ich gesät, und jetzt haben wir fast alles geerntet, und ich bereite den Boden für die Herbstsaubohnen vor, und die Sprossen gedeihen gut. Komm mit ins Haus! Weiß die Äbtissin, dass du hier bist, sie wird begeistert sein, alle werden sich freuen, dich zu sehen, wo du so gut aussiehst, die Welt steht dir gut, habe ich das schon gesagt? Ja, aber es stimmt, und du fehlst uns, aber ich glaube, es war am besten so, wenn ich dich jetzt so ansehe, Jane, du wurdest woanders gebraucht. Jetzt sag mir, wo bist du, was hast du gemacht?«
    Schwester Thomas, herzlich und überschäumend, hatte schon immer wie ein Wasserfall geredet, wenn gerade nicht Silentium herrschte, als hätte sie alles stundenlang in sich aufgestaut, was herausströmte, sobald der Stöpsel gezogen war. Andere sprachen immer wenig, als hätten sie vergessen, wie es geht, hätten Wörter verloren, so sehr waren sie in ihrer Welt des Schweigens und der Kontemplation gefangen.
    Alle Nonnen durften jederzeit frei mit Besuchern sprechen. Gastfreundschaft ging vor. Ein Gebot der Höflichkeit. Vieles hier in der Abtei hatte Jane wesentlich zivilisierter gefunden, als sie erwartet hatte. Das gehörte zu den Dingen, die ihr fehlten, das und die gewohnte, gegenseitige Höflichkeit und Rücksichtnahme. Hier rangierten die Mitmenschen automatisch an erster Stelle. Eine Lebensart. Der Kontrast zur Außenwelt war brutal. Die meisten Schwestern, die seit ihrem Eintritt nie wieder jenseits der Klostermauern gewesen waren, würden draußen nicht überleben. Auf die Äbtissin traf das nicht zu. Sie wusste genau, wie die Welt war, und ließ sich erstaunlicherweise nicht davon beeindrucken. Andererseits war die Äbtissin auch eine außergewöhnliche Frau.
    Sie gingen zur Hintertür, wo Schwester Thomas ihre Stiefel abstreifte, dann weiter ins Haus. »Dir macht es nichts aus, hier hereinzukommen, Jane, das weiß ich, sonst müssen wir ganz herumgehen, und schau, wir haben das Fenster dort endlich repariert, und dieser Flur ist frisch gestrichen, wahrscheinlich kannst du es noch riechen.«
    Vom hauswirtschaftlichen Bereich gingen sie den frisch gestrichenen Flur hinunter und erreichten den formelleren Teil der Abtei. Der Farbgeruch wurde von dem Geruch überdeckt, der Jane als lebhafteste Erinnerung an den Ort erneut entgegenschlug – der und die Geräusche der Abtei, die Glocken und die Schritte, die der Reihe nach über Flure trippelten, wenn die Nonnen schnell und schweigend zur Kapelle gingen.
    Der Geruch war der von Internaten und Klöstern gleichermaßen – Bohnerwachs mit einem Hauch Essensduft.
    Die Tür zum Nähraum stand offen, und eine elektrische Maschine surrte. Aus einem Büro drang das leise Tippen von Fingern auf einer Tastatur. Janes Gummisohlen unter den Schuhen, die sie immer zum Fahren anzog, quietschten auf den Fliesen, als sie um die Ecke bogen, an der Kapelle vorbei, an der Flügeltür zum Refektorium, um eine zweite Ecke neben einem hohen klaren Fenster, durch das Sonnenlicht auf eine silberne Vase mit zitronengelben Chrysanthemen vor einem Holzkreuz strömte.
     
    Als Jane Zweifel gekommen waren, ob das klösterliche Leben für sie geeignet war, hatte Schwester Catherine zugehört, hin und wieder eine Bemerkung fallenlassen, sie aber nie unter Druck gesetzt, eine Wahl zu treffen oder ihre Entscheidung zu beschleunigen.
    »Du darfst gern hierbleiben, solange du es brauchst«, hatte sie gesagt. »Lass dir Zeit. Niemand wird dich bitten, fortzugehen, bevor du dazu bereit bist. Oder zu bleiben.«
    Jane war es gleich bessergegangen. Die Abtei war anders als das, was sie erwartet hatte und was sie glaubte zu wollen. Das Leben war Routine, und in vielerlei Hinsicht dumpfe Routine. Das Schweigen und die Stille hatten ihr gefallen, die wohlüberlegte, ruhige Art, in der die Frauen ihrer täglichen Beschäftigung nachgingen. Doch ihr hatten der Anreiz und die Herausforderungen der Außenwelt gefehlt. Nicht die Aufregung, nicht die Hast, aber das Neue eines jeden Tages. Hier gab es

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